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Ich habe eine S-Bahn-Bekanntschaft. Eine junge Frau, etwa in meinem Alter. Ihr genaues Alter kenne ich nicht. Sie hat mich angesprochen, vor ein paar Tagen, am Bahnsteig: Ich wäre gestern doch auch nach Berg am Laim gefahren. Seither sind wir Bekannte. Jeden Morgen gegen 8.20 Uhr begrüßen wir einander am Gleis. Eine gute halbe Stunde lang fahren wir miteinander und reden – über die Arbeit, über das Bahnfahren, aber auch über Privates. Ich weiß nun, dass sie einen Freund hat, dass die beiden ein Haus gebaut haben und dass die Nachbarn toll sein müssen: Als sie eingezogen sind, haben die extra ein Straßenfest organisiert. Einfach so, als Begrüßung. Im Dezember. Es gab Plätzchen, es gab Glühwein, die Stimmung war schön. Meine neue Bekannte und ich reden, als würden wir uns ewig kennen – dabei verbindet uns eigentlich nur unser Arbeitgeber.  

Bisher sind wir erst einige Schritte gegangen auf dem Weg zu einer echten Freundschaft. Sollte sich aber eine  entwickeln, würde sie sich unterscheiden von vielen meiner anderen Freundschaften. Normalerweise ist es ja so: Die meisten Freunde lernt man auf konventionellem Weg kennen. Im Kindergarten, in der Schule, in der Uni, auf der Arbeit. In Umgebungen also, die man über einen längeren Zeitraum hinweg teilt oder geteilt hat. Denn geteilte Zeit verbindet: Sie schafft Leidensgenossen. Außerdem hat man früher oder später eh keine andere Wahl, als sich mit einem der Anwesenden zu unterhalten. Und der- oder diejenige bleibt einem dann oft sehr lang erhalten.  

Bei spontan entstandenen Bekanntschaften fehlt diese Zeitkomponente. Man kann die Tage, Stunden und Minuten später nachholen, doch sie begründen diese Art von Freundschaft nicht. Genau das macht sie besonders: Der eigene Wille, die Entscheidung für eine Person ist der Grundstein dieser Freundschaft. Bei "normalen" Beziehungen spielt er zwar auch eine Rolle – kein Mensch ist mit einem anderen befreundet, nur weil der zufällig mal eben da war. Aber im Vergleich zum Zeitfaktor ist seine Rolle eine eher untergeordnete. Für die S-Bahn-Bekanntschaft muss ich selbst aktiv werden: Spreche ich die Person an oder nicht? Beziehungsweise: Setze ich mich am folgenden Tag wieder zu ihr oder nicht? Denn egal, wie oft man dasselbe Ziel hat – man könnte es auch einfach sein lassen. Keinen Schritt auf den anderen zugehen. In unserer Gesellschaft ist es vollkommen okay zu sagen: „Nee, interessiert mich nicht.“ Es ist okay, morgens keinen Smalltalk halten zu wollen, es ist okay, lieber auf das Smartphone oder in die Zeitung oder einfach nur aus dem Fenster zu gucken. Weil ich dem anderen Raum gebe, weil ich ihm Zeit opfere und mich aktiv für ihn entscheide, ist diese Freundschaft – sollte sie die Kennenlernphase überstehen – so wertvoll.  

Ich habe schon sehr gute Erfahrungen gemacht mit dieser Art von Bekanntschaften. Mit Jenny bin ich seit zweieinhalb Jahren befreundet. Wir lernten uns bei einer Mitfahrgelegenheit von Berlin nach Hamburg kennen. Drei Stunden lang unterhielten wir uns über Partys in Berlin, über unsere coolen schwulen Freunde und darüber, wie viel besser das Fernsehen früher war. Smalltalk eben, aber netter Smalltalk. Unsere vier Mitfahrer schliefen währenddessen. Als wir in Hamburg ankamen, fragte ich sie nach ihrer Nummer. Wir könnten ja mal ein Eis essen gehen, schlug ich vor, in der Eisdiele, von der sie mir erzählt hatte. Eine Woche später stand sie da, vor dem Eisladen. Bis heute waren wir auf zwei Festivals zusammen, ich habe sie in ihrer Stadt besucht, sie mich in meiner. Aus drei Stunden, die wir aus Zufall teilten, wurde eine Freundschaft.

Wahrscheinlich erzählen Jenny und ich anderen deshalb immer noch so gerne unsere Kennenlerngeschichte. Fast immer sagt jemand: „Verrückt! Und ihr seid noch so gut befreundet?“ Keine Frage, sondern ein etwas ungläubiges Staunen, in dem eine gewisse Bewunderung mitschwingt. Dafür, dass eine von uns den Mut aufbrachte, die andere nach einer zufälligen und eher kurzen Begegnung nach der Telefonnummer zu fragen. Überwindung kostet das schon. Vor der Frage kribbelt es ganz schön im Bauch. Zumal bei jemandem, dessen Reaktion man nicht vorhersehen kann: Ist der andere spontan und freut sich über mein Interesse? Oder findet er mich oberkomisch, weil ich ihm viel zu aufdringlich erscheine? Nicht nur in der Dating-Welt, auch im Bereich der Freundschaft kann man einen Korb bekommen.  

Für meine S-Bahn-Bekanntschaft muss dieses Kribbeln noch viel doller gewesen sein. Immerhin saßen wir nicht drei Stunden lang in demselben Auto. Wir mussten uns nicht zwangsweise unterhalten. Sie hatte mich erst ein einziges Mal gesehen – und brachte doch den Mut auf, mich anzusprechen. Vielleicht sollte man ja öfter einmal etwas wagen. Leute, die einem total sympathisch erscheinen, einfach ansprechen. Auch, oder vielleicht sogar gerade, in der S-Bahn. Klar – wenn sich der andere tags darauf demonstrativ weit weg setzt, ist das unschön. Es ist aber nicht das Lebensende. Und es kann ja durchaus sein, dass sich etwas aus diesem ersten, vorsichtigen Entgegenkommen entwickelt: eine – allein schon deshalb, weil man sich überwunden hat – ganz besondere Freundschaft.

Text: melanie-maier - Foto: photocase / solvig / rouvenk

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