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Tausend Zettel am Manuskript

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Man hatte mich überzeugt. Ich wurde Industriekauffrau. Zwischendurch, dachte ich mir, ist es vielleicht nicht schlecht, wenn ich einen Roman schreibe. Zum Schreiben stand ich eine Stunde eher auf und ging eine Stunde später ins Bett. Leider war meine hierfür zuständige Hirnhemisphäre zu solchen Tageszeiten entweder noch nicht so ganz aufgewacht oder schon so gut wie eingeschlafen, so dass nur Phrasen entstanden. Es ging um Gott und die Welt, um Leben und Tod, „Wir sind geboren, um zu sterben“, schrieb ich und war mir sicher, damit den Nerv der Zeit zu treffen. Um ihn ganz genau zu treffen, schrieb ich 500 Seiten und legte mein Werk einem Deutschlehrer der Berufsschule vor.

Hurra, mein Buch ist da! Deutschlehrer in Berufsschulen, insbesondere Deutschlehrer im Bereich Wirtschaft und Verwaltung, sind leicht zu beeindrucken. Das Fach Deutsch wird dort samt Lehrer allzu oft als Nebensächlichkeit abgetan. Mein Lehrer strich zitternd vor Ehrfurcht über das Manuskript, er hatte es nicht einmal gelesen, trotzdem stiegen ihm Tränen in die Augen, ich sagte: Das habe ich nur für Sie getan. – Nein, stimmt nicht – ich sagte: „Die Ausbildung ist vielleicht nicht das richtige für mich“, in der Hoffnung, er würde mir recht geben und mir augenblicklich mitteilen, was stattdessen zu tun sei. Dann knallte es. Ich verlor ein Auge, ich hatte eine Glatze, ich konnte meinen Mund nicht mehr öffnen, weil beide Kiefer gebrochen waren, und in meinem Bauch ertastete ich eine Reihe von Tackernadeln. „Sie hatten einen schweren Autounfall“, erklärte mir eine Krankenschwester. Und während ich dort so herumlag, auf der Intensivstation, dachte ich eine Menge nach, vor allem über meine berufliche Zukunft. Wir sind nicht geboren, um zu sterben, fiel mir ein, sondern, um uns endlich einmal vernünftig zu informieren. Kaum wieder auf den Beinen, fand ich heraus, dass es in Arnsberg einen Schreibworkshop gab. Ich fuhr hin, ich nahm teil. Die Kursleiter boten uns sämtliche Freiheiten, wir bekamen Schreibaufgaben und konnten uns damit ins Gras legen oder auf den Baum setzen. Wir konnten die Aufgaben lösen oder auch nicht, wir konnten das Ergebnis vorzeigen oder bedeckt halten. Um mich herum saßen, standen und lagen schreibende Menschen in meinem Alter, eifrig, talentiert, stolz. Das Schreiben bekam etwas angenehm Banales, etwas Alltägliches. „Man kann das sogar studieren“, hörte ich jemanden sagen, „in Leipzig, ein Diplomstudiengang.“ Dort wollte ich hin, ich wollte ins Paradies. Das Schreiben fühlte sich gut an, es war keine Beweislast mehr, wie in der Schule, nichts Benotbares, ich hatte nicht mehr den Eindruck, etwas besonders Wichtiges besonders toll ausdrücken zu müssen. Die 500 Seiten warf ich weg, ich schrieb ab jetzt aus meiner Sicht, mit meinen Worten, mit Übertreibungen, Verfremdungen und Autobiographischem. Ein Fragment entstand. Ich nannte es „Heul doch!“. Ich suchte und fand Kontakt zum Literaturbetrieb. „Schmeiß die Glasaugenscheiße raus!“, riet mir das Literarische Colloquium Berlin. Man meinte es gut. Man wollte mich womöglich vor unangenehmen Leserfragen schützen. Aber ich ließ die Glasaugenscheiße drin. Sie gefiel mir. Sie war plötzlich das einzige, was mir noch gefiel an meinem Buch. Alles andere kam mir vor, wie bei Hempels unterm Sofa. „Stringenz“, sagte man, „was noch fehlt ist Stringenz“, und es klang irgendwie beruhigend, es klang logisch, machbar, wie eine Variable, die ich in die Gleichung einsetzen musste, wie ein Lösungsweg, den man nur einfach zu verfolgen hatte, um ans korrekte Ergebnis zu kommen. Bis hierhin hatte ich drei Jahre an „Heul doch!“ herumgefuhrwerkt. – Es folgten zwei weitere. Die Textmitte wurde zum Textanfang. Der Textumfang schrumpfte von 240 auf 110 Seiten. Figuren und Handlungsstränge wurden umgeschrieben, wurden dann doch wieder rekonstruiert und flogen am Ende ganz raus. Nach fünf Jahren war ich zufrieden mit meinem Text, aber ich konnte nicht mehr aufhören, daran zu schreiben. Es war mir unvorstellbar, jetzt tatsächlich damit fertig sein zu sollen, die Arbeit daran zu beenden, einen Schlussstrich zu ziehen. Das Lebensprojekt atmet Zum Glück hatte ich inzwischen angefangen, am Deutschen Literaturinstitut Leipzig zu studieren. Dort beschäftigte man mich mit anderen Themen und verabreichte mir zur Entwöhnung täglich zwei Schreibübungen. Ich lernte das Lebensprojekt „Heul doch!“ loszulassen. Es lag vor mir, mit abgetrennter Nabelschnur, auf meinem Schreibtisch, und es hatte seinen eigenen Pulsschlag. Ich nahm es in den Arm, ich küsste es – dann klingelte das Telefon: Ein Verlag. Dann klingelte wieder das Telefon: Ein zweiter Verlag. Wo soll ich es hingeben? Was ist das Beste für mein Kind, ääh, Buch? Ich entschied mich für den Verlag, der es am wenigsten manipulieren wollte, der es möglichst so nahm wie Gott, beziehungsweise ich, es geschaffen hatte. Ich wurde nach Salzburg eingeladen, zum Lektorat. Die Lektorin empfing mich mit tausend Zetteln am Manuskript, die mit tausend Notizen versehen waren. „Keine Angst“, sagte sie, „das sind nur Fragen an den Text“. Ich sah sie skeptisch an. „Zum Beispiel das Wort tausend. Sie verwenden es insgesamt achtundfünfzig mal. Braucht Ihr Text das Wort tausend tatsächlich so sehr?“ – „Nein“, antwortete ich. Wir fanden noch weitere tausend Wörter und tausend Aussagen, die sich tausend mal zu oft wiederholten. Ich akzeptierte solche Kürzungen, denn am Ende war mein Baby immer noch das selbe. Es sah nur etwas anders aus. Autorin: Melanie Arns

Heul doch erschien 2004. Melanie Arns hat gerade ihr zweites Buch herausgebracht. Traumpaar, nackt ist im Verlag Jung und Jung erschienen und kostet 15, 80 Euro. Foto: Claudia Wittmann

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