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Und er sitzt noch immer

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Ikonen, wie sie in der orthodoxen Kirche eine große Rolle spielen, sind geweihte Bilder. Den Marien- und Jesusfiguren haftet ein Stückchen Heiligkeit an, in dem sich die ganze Größe Gottes spiegelt: das Leiden, die Gnade, die Herrlichkeit. Niemand muss mehr erklären, denn das Bild sagt bekanntlich mehr als Worte. Bewegungen – religiöser, politischer oder ökologischer Art – brauchen solche Symbole. Sie sind der kleinste gemeinsame Nenner, der vor Zersplitterung warnt und alle Individuen immer wieder daran erinnert, zu welchem Zweck man die Unbequemlichkeiten einer Gruppe auf sich nimmt. Man stelle sich nur das Christentum ohne Kreuz vor, Frankreich ohne Revolution und die Linke ohne Che Guevara. Oder ohne das Bildnis Mumia Abu-Jamals. Unter den Dreadlocks des heute 54-Jährigen sammeln sich Gegner der Todesstrafe, genauso wie Black-Panther-Sympathisanten, die die USA für einen im Grunde rassistischen Staat halten, Globalisierungskritiker, Antifaschisten, Franzosen und Fans des Rappers KRS-One. Würde der Hintergrund, auf dem sein Bildnis prangt, nicht stets schwarz oder rot, sondern rot, gelb und grün sein, man könnte den Herrn glatt mit Bob Marley verwechseln. Vielleicht tun das auch manche. Schließlich ist die Geschichte von Mumia Abu-Jamal eine ziemlich alte, komplizierte und lange. Kürzer wird sie nicht: Am Montag lehnten Richter des Obersten Gerichtshof der USA abermals eine Neuaufnahme des wegen Polizistenmordes verurteilten Journalisten ab.

Mumia Abu-Jamal sitzt seit 1982 im Gefängnis – bis vor kurzem im Todestrakt. Bis heute wirft sein Fall zahlreiche Fragen auf. Die offizielle – und von mehreren Zeugen zumindest teilweise bestätigte – Version lautet: In den frühen Morgenstunden des 9. Dezembers hält der Polizist Daniel Faulkner ein Auto an, das in einer Einbahnstraße in die falsche Richtung ohne Licht fährt. Der Fahrer heißt William Cook und ist der Bruder von Mumia Abu-Jamal, geb. Wesley Cook. Als der Polizist dem Fahrer Handschellen anlegen will, kommt es zu einer Rangelei. Plötzlich fällt ein Schuss, Faulkner bricht zusammen, kann aber noch einmal zurückfeuern. Dann steht der verwundete Mumia Abu-Jamal vor ihm und schießt sein Magazin leer. Wenig später trifft Verstärkung ein und nimmt Mumia fest. Im Juni 1982 wird er von einer Jury (bestehend aus zehn Weißen und zwei Afroamerikanern) des Mordes für schuldig befunden und zum Tod verurteilt. Mumia hatte darauf bestanden, sich selbst zu verteidigen. Da der Angeklagte, der schon als Teenager bei den militanten Black Panthers aktiv war, mehrmals zu politischen Reden ansetzte, wurde er immer wieder des Saales verwiesen. Später beklagte sich Mumia, von einem Großteil des Prozesses ausgeschlossen gewesen zu sein. Mumia beteuerte von Anfang seine Unschuld. Allerdings entschloß er sich erst 2001 – knapp 20 Jahre nach seiner Verurteilung – zu einer eidesstattlichen Erklärung. Darin gibt er an, während einer Taxifahrt Schüsse gehört zu haben und daraufhin im Rückspiegel seinen wankenden und schreienden Bruder zu sehen. Mumia steigt aus dem Wagen – dann verlässt ihn seine Erinnerung. Sie setzt erst wieder ein, als er von weißen Polizisten umringt wird, die ihn schlagen und als „Nigger“ beschimpfen. Auch sein Bruder spricht erst 20 Jahre nach der Tat: Er gibt an, sein Bruder habe mit der Tat nichts zu tun. Der Fall wanderte bis zum Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten. Fazit nach mittlerweile 26 Jahren: Das Todesurteil wird aufgehoben. Abu-Jamal Mumia bleibt aber weiterhin des Mordes schuldig und ist weiterhin Ikone Linker jeder Couleur. Die Beastie Boys und Rage against the Machine geben Solidaritätskonzerte. Im Oktober 2002 verleiht die „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten“ Mumia Abu-Jamal die Ehrenmitgliedschaft. 2003 wird Abu-Jamal zum Ehrenbürger von Paris ernannt – Bürgermeister Delanoe erklärte ihn zum Symbol im Kampf gegen die Todesstrafe. In der antimimperialistischen Zeitung Junge Welt schreibt Abu-Jamal wöchentlich eine Kolumne. 2006 wird im Pariser Vorort Saint Denis sogar eine Straße, die „Rue Mumia Abu-Jamal“, nach ihm benannt, was für Unruhe in den transatlantischen Beziehungen sorgt. Amnesty International nahm den Fall zum Anlasse, die Praxis der Todesstrafe in den USA zu kritisieren, enthielt sich aber einer juristischen Bewertung. Kritiker beklagen seit Jahren die einseitige Verklärung der Figur von Mumia Abu-Jamal. Manche Gegner der Todesstrafe in den USA (so wie Steve Lopez im Time Magazine) sind sogar der Meinung, der Fall Abu-Jamals und die jahrzehntelange Weigerung der Brüder, auszusagen, habe der Bewegung mehr geschadet als genutzt. Die Witwe des erschossenen Polizisten hingegen betreibt ein Blog, in dem sie die Hinrichtung Abu-Jamals fordert. Nun haben die Richter abermals eine Neuaufnahme des Verfahrens abgelehnt. Ob eine Revision den Fall nach über 26 Jahren aufklären könnte, ist mehr als fraglich. Es mag zynisch klingen, aber nicht auszudenken, was wäre, wenn der Mensch Mumia Abu-Jamal frei käme und die Ikone Mumia Abu-Jamal verschwände? Irgendein Bild muss man schließlich durchhalten.

Text: philipp-mattheis - Foto: dpa

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