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Unterrichts-Punkrock: Nachruf auf das IWF, das mit Filmen im Unterricht Standards setzte

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Zu den wichtigsten Fragen der Schule gehört: Lamellen oder Vorhang? Wir hatten Lamellen, die der Lehrer per Knopfdruck vor den Fenstern herunterfahren lassen konnte, wenn er seinen alles aufschließenden Lehrerschlüssel in eines der wundersamen Schlüssellöcher steckte, die das Aussehen jener Alarmknöpfe aus dem Physik-Saal hatten, die „Not-Aus“ hießen und nur „Bei Gefahr!“ zu betätigen waren. Dann schnurrten langsam die Lamellen herunter, das Klassenzimmer verdunkelte sich und der Lehrer sagte: „So.“ Dann schwieg er, nur einen Herzschlag lang, als gäbe es etwas außerordentlich Bedeutendes zu verkünden, und so war es auch: „Heut´ schau´n wir einen Film an.“ Das waren wunderbare Augenblicke. Für den, der sich so sicher war, ausgefragt zu werden. Für den, der eben noch eine Stegreifaufgabe argwöhnte. Für den ganzen Rest. Wenn wir Glück hatten, hatte der Lehrer sogar einen Klassiker ausgewählt. Klassiker bedeutete auf Schul-Deutsch: „Film, 16 mm“ und in der wahren Welt, dass der Lehrer zunächst zehn Minuten damit beschäftigt war, unter verhaltenem Fluchen das freie Ende der Filmrolle in den Projektor zu bugsieren, bis schließlich flackernd ein Bild auf der Wand des Klassenzimmers entlang kroch und ein Logo erschien. Wenn wir Pech hatten, schob er nur einen Video in den Videorekorder und zack – das Logo war da. In großen, auf einander gestapelten Buchstaben stand da zu lesen: I W F Dann kam ein seltsamer Titel, Die Zelle I – Leben aus Licht und Luft oder Geburt im Knien (Zulu, Südafrika) oder Biologische Membranen – Monolayer, Bilayer und Liposomen – immer sperrig, immer geheimnisvoll, nie spannend. Was danach kam – keine Ahnung. Meist war man binnen Minuten in einen meditativen Zen-Zustand gewechselt, in dem sich die Welt in Nichts auflöst. Aber es waren großartige Schulstunden.

Kristalle, wie das IWF sie zeigt Deswegen ist jetzt, da endgültig klar ist, dass das „Institut für den wissenschaftlichen Film IWF“ aus Göttingen Ende dieses Jahres geschlossen wird, Zeit für einen ehrenden Nachruf: Seit Anbeginn der Zeit oder zumindest seit 1956 hat dieses Bollwerk bundesrepublikanischen Bildungswesens deutsche Schulen und vor allem Universitäten mit dem versorgt, was so hässlich „Unterrichts-Medien“ genannt wird, in Wahrheit aber große Kunst war – die Kunst, eine Sache allein um ihrer selbst willen zu machen, ohne Zugeständnisse an Konsumenten, Moden, gerade angesagten Geschmack. Man könnte sagen: Das IWF war die erste Bastion gegen jede Art von Mainstream, die man in der Schule und später in der Uni zu Gesicht bekam – die von der IWF, die schissen darauf, was gerade angesagt war, die machten immer, was sie wollten und damit basta. „No Sellout!“ hat einen Namen: IWF. Das IWF vertrieb Filme mit Titeln wie „Cyrtodiopsis spec. (Diptera, Diopsidae) - Schlüpfen aus dem Puparium. Ausformung der Augenstiele“, die dann in ebenso liebevoller wie unerbittlich korrekter Sprache erläutert wurden: „Asiatische Stielaugenfliege. Sprengen der Puppenhülle mit Hilfe des Ptilinums, Herauswinden und -stemmen, Putzen, Strecken der Augenstiele durch Binnendruck und streichelnde Beinbewegungen, Drehung der Augenstiele, Aufpumpen der Scutellardornen und Flügel.“ Und was da versprochen wurde, das kam auch, Schritt für Schritt: Vollkommen egal, ob der Film „Eine Kopfjagdgeschichte“ hieß (Beschreibung: „Der Hamat'sa ist die wichtigste und oft dargestellte Zeremonie der Kwakwaka'wakw“) oder „Arctocephalus galapagoensis – Kopulation“, die IWF zog ihr Ding durch, was im Falle des letztgenannten Biologie-Pornos bedeutet: „Galapagos-Seebär. Ein territorialer Bulle steigt mehrmals auf ein Weibchen auf, bis schließlich die Kopulation gelingt. Niederhalten des Weibchens, rhythmische Beckenstöße des Männchens, deren Frequenz mit der Zeit zunimmt. Während der Kopulation beißt ein kleineres Männchen mehrfach den kopulierenden Bullen, der das aber kaum beachtet, obwohl er sonst solche Männchen von seinem Territorium vertreibt.“ Hätte Charles Bukowski das geschrieben, die Feuilletons schwelgten noch heute über diese nüchtern-ehrliche Darstellung der Sexualität. Ist aber original IWF. Unterrichts-Punkrock. In keinem Fach wurde das so deutlich wie in Biologie, wenn sie hässlich wird und in die organische Chemie übergeht, Zitronensäure-Zyklus und so, in diesem Bereich hat die IWF Meisterwerke geschaffen, und eines ist noch heute zu sehen (An dieser Stelle selbstverständlich kein YouTube-Link (Kommerz!), sondern zwei Old School-Links, und zwar für Windows Media und Real Time ) - der sehr lustige Film “Biologische Membranen - Rekonstruktion von Membranfunktionen“. Der Film beginnt, ein unglaublich kompliziertes und beeindruckendes Gerät taucht auf, das aussieht wie aus einem Science-Fiction-Film, eine Frau im weißen Kittel sitzt davor, eine Stimme sagt: „Unter dem Elektronenmikroskop erscheinen alle biologischen Membranen als Doppellinien.“ Dann kommen Bilder aus einem LSD-Trip oder einem Elektronenmikroskop, ist nicht ganz klar, und der Sprecher erzählt von mit Cytochrom-C-Molekülen besetzten Lipid-Membranen, streift den Unterschied zwischen hydrophil und hydrophob, spricht von Polypetiden und der Permeabilität der Membran – und sofort ist es wieder da, dieses träge Gefühl, in einem verdunkelten Klassenzimmer zu sitzen, mit einem flimmernden Fernseher an der Wand, auf dem der einzig wahre Underground läuft.

Könnten mit Cytochrom-C-Molekülen besetzte Lipid-Membranen sein. Sind aber sicher: Membranen. Wie es heißt, wird die IWF auf Beschluss der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung mit dem Ende dieses Jahres nicht mehr finanziert. Sag zum Abschied dreimal schnell „mit Cytochrom-C-Molekülen besetzte Lipid-Membran“. Ciao, IWF!

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