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Vorfreude schöner Götterfunken

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In der eisigen Silvesternacht legt ein Mädchen ihre kalte Hand in meine. Das Mädchen ist sehr süß und auch ein bisschen betrunken, so wie ich. Nun könnte man sich wohl küssen. Lieber später, denke ich. Später ist besser! Aber später kam dann natürlich nicht. Es kam irgendwann nur noch zu spät und alle gingen nach Hause. Ich auch. Wieso dachte ich denn bloß, später sei besser? Als man sich in den letzten Jahren dem Phänomen Prokrastination vermehrt widmete – selbst die Lehramtsstudentinnen tuschelten ja in der Straßenbahn schon darüber – hat man eines oft übersehen: Vor sich her schiebt man nicht nur das Unangenehm-Zwickende, die Hausarbeiten, Badezimmer-Entschimmelungen und Trennungsgespräche. Auch das Erfreuliche wird ständig prokrastiniert. Küssen zum Beispiel. Oder das Anhören der neuen Tocotronic-CD. Oder die roten Gummibärchen, die man am Schluss isst, weil sie am leckersten sind.

Mittlerweile haben sich die Prokrastinationsforscher aber auch die Ergründung dieser Ist-toll-mach-ich-aber-lieber-nachher-Phänomene auf die Fahnen geschrieben. 2009 veröffentlichten zwei Wissenschaftler der University of California eine Studie zu Procrastination of enjoyable experience, die eine banale Alltagsbeobachtung akademisch unterfüttert: Personen, die längere Zeit in Chicago gelebt hatten, wurden befragt, wann sie die Sehenswürdigkeiten ihrer Stadt besucht hatten. Der bekannte Effekt: Je näher ihr Wegzug aus Chicago rückte, desto eher machten die Personen einen Ausflug in die berühmten Museen oder den Zoo ihrer Stadt. Ein Fall von Prokrastination also, die ja um so schlimmer wütet, je weniger die Deadline drückt, und am schlimmsten, wenn es gar keine gibt. Ähnliches kam heraus, als man an Probanden Geschenkgutscheine für leckeres französisches Gebäck und Kinobesuche verteilt hat: Gutscheine, die nur eine Woche gültig waren, wurden häufiger eingelöst als Gutscheine, die einen Monat lang gültig waren. Die Wissenschaftler erklären das mit einer Hypothese aus der experimentellen Psychologie: Prokrastiniert wird, wenn man den Zeitaufwand für eine Tätigkeit, egal ob sie erfreulich ist oder erst mal lästig, als um so geringeres Übel einschätzt, je weiter die Tätigkeit in der Zukunft liegt. Morgen, denkt der Mensch, hat er bestimmt mehr Zeit als heute. Hat er aber dann gar nicht – und plötzlich ist der Gutschein abgelaufen oder man muss in der letzten Woche vor dem Umzug alle Sehenswürdigkeiten der Stadt abklappern. Auch Kathrin Passig hat in einem Blogeintrag jetzt auf das bisher eher unbeachtete Prokrastinieren von Erfreulichem hingewiesen. Statt der experimentellen Psychologie zieht sie zur Erklärung aber „die Kavallerie der Neurowissenschaften“ heran: Die haben nämlich herausgefunden, dass im Gehirn von Ratten getrennte Areale für das Mögen und das Wollen verantwortlich sind. Beide lässt sich auch unabhängig voneinander deaktivieren. Daraus ließe sich schließen, dass wir uns eben nicht immer das Wünschen, was uns auch Vergnügen bereitet. Und zwar nicht nur, wenn wir uns, wie so oft, über unsere eigenen Präferenzen täuschen. Sondern auch wenn wir keine Planungsfehler machen: Denn Wollen und Mögen sind einfach zwei paar Schuhe. Und was wir mögen, aber nicht wollen, das prokrastinieren wir dann genauso wie das, was wir weder mögen noch wollen. Lobenswert, dass sich die Prokrastinationswissenschaft nun auch diesen Dingen widmet. Nur warum ich später küssen besser fand, das erklären mir mal wieder weder die Leute aus Chicago noch die Ratten aus dem Labor, dachte ich am Neujahrsmorgen beim einsamen Studium der Forschungsergebnisse. Weder war mir meine Zeit in diesem Moment zu kostbar, um sie mit Knutscherei zu verschwenden, noch fielen dabei Wollen und Mögen auseinander. Denn wenn sie bei irgendetwas nicht auseinanderfallen, dann doch, wenn es ums Küssen geht! Es muss also noch eine andere Erklärung geben, wieso wir manche schönen Dinge vor uns herschieben wie vollbeladene Einkaufswagen, manchmal leider so lange, bis der Einkaufswagen umkippt und die Gelegenheiten verstreichen. Es gibt doch dafür, fiel mir dann ein, ein schönes kleines deutsches Wort, um das uns andere Sprachen bestimmt beneiden: Vorfreude. Nicht nur der Volksmund weiß schließlich, dass es sich dabei um eine der gelungensten Einrichtungen handelt, die uns für unseren emotionalen Haushalt mitgegeben wurden. Nicht Neurologie oder Psyche treiben uns dazu, das Schöne hinauszuzögern, sondern Ästhetik: Unsere enjoyable experiences sollen ja bloß in der richtigen dramaturgischen Reihenfolge passieren, und das Beste kommt da schließlich immer am Schluss. Denn je länger wir darauf warten können, desto länger dürfen wir uns hemmungslos der Vorfreude hingeben. Und desto kürzer ist die eklige Zeit danach, in der uns Freude wie Vorfreude genommen sind und uns nur noch die doofe alte Tante Erinnerung bleibt. Die ist schließlich nur was für Menschen, die gerne in der Vergangenheit leben. Die Vorfreudigen und Verzögerungsgenießer aber haben einen anderen Lieblingsort: die Zukunft. Dass ich zu ihnen gehöre, erst recht, wenn es ums Küssen geht, weiß ich eigentlich schon lange. Selbst schon aus der Distanz und nur als Beobachter gruseln mich diese wenigen Sekunden, nachdem das Pärchen die Lippen wieder voneinandergelöst hat, und in denen klar wird: Die Erlebniskurve hat ihren Zenit jetzt erst einmal überschritten. Deswegen ist meine Theorie: Prokrastination von Erfreulichem ist eigentlich auch nur Prokrastination von Unerfreulichem. Nämlich vom unerfreulichen Ende der Vorfreude. „Carpe diem!“ rufen mir die Prokrastinationssachverständigen vermutlich nun zu, wenn ich sie um Rat frage. Nicht in der Zukunft sollst du leben, sondern im Jetzt und Hier. Das wäre eine Möglichkeit. Eine andere: Man küsst sich einfach für immer. Vielleicht gibt es dazu ja bald auch ein paar Studien aus der Neurowissenschaft und experimentellen Psychologie.

Text: lars-weisbrod - Illustration: judith-urban

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