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"Wie, du kennst das nicht?"

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Wenn meine Freunde mich ermahnen, dann machen sie ein langes A. „Nadjaaa“ sagen oder schreiben sie dann. Wenn ich schlechte Laune habe zum Beispiel oder wenn ich etwas sehr lustig finde, aber niemand sonst lacht. Es ist ein langes A, in dem Genervtheit und ein „Ist jetzt nicht wahr, oder?“ mitschwingen. Am meisten stört es mich, wenn es im Zusammenhang mit Informationen auftaucht. Wenn ich begeistert von etwas erzähle, nur um dann feststellen zu müssen, dass alle anderen es schon kennen. Wenn ich den Link zu einem Video im Chat poste, das leider schon alle gesehen haben. Wenn jemand einen Namen nennt, den ich noch nie gehört habe, aber anscheinend dringend schon mal gehört haben sollte. „Nadjaaa“ sagen sie und ich schäme mich. Und das Schlimmste ist: Selbst, wenn sie es nicht sagen und selbst, wenn es mir nicht vor ihnen, sondern vor Bekannten oder Kollegen oder gerade auf einer Geburtstagsparty Kennengelernten passiert, dann höre ich es. Und schäme mich.  


"Äääh, hallooo?! Das ist doch total Frühling 2013."

Was für mich das lange A ist, das kennen andere als diese Sätze: „Das ist doch schon uralt“ oder „Kennst/kanntest du das etwa (noch) nicht?“ Etwas noch nicht zu kennen, ist mittlerweile die schlimmste Beleidigung unter Menschen bis 30. Zumindest eine der häufigsten. Und sie ist besonders spitz, weil sie erst mal gar nicht als solche daherkommt. Sie tarnt sich selbst als Information, als netter Hinweis, dass man etwas verpasst hat. Aber „Kennst du das etwa nicht?“ bedeutet eben nicht nur, dass man diese eine Sache gerade zufällig verpasst hat, sondern beinhaltet auch die Vermutung, dass man generell noch in den Neunzigern lebt. „Ey“, scheinen die Informierten zu sagen, „die Gegenwart bietet uns so viele Kanäle und Informationen und du läufst da mit Scheuklappen und Watte in den Ohren durch? Wieso verweigerst du dich dieser wunderbaren Möglichkeit, alles sofort wissen zu können, ohne dafür etwas tun zu müssen? Bist du nur langsam oder total desinteressiert?“ Die Verteidigung des Uninformierten kann nur in die Hose gehen. Das gespielt-beschämte „Ups, hab ich irgendwie nicht mitbekommen...“ ist nur die Bestätigung der Vermutung, dass man eigentlich lieber alte „Girlmore Girls“-Folgen schaut, anstatt sich für das Weltgeschehen zu interessieren. Und das Trotzige „Ja, Tschuldigung, ich hab halt auch noch ein anderes Leben!“ macht alles nur noch schlimmer. Denn die Annahme ist ja, dass man sein „anderes Leben“ nicht aufgeben muss, um alles mitzukriegen. Sondern dass man auf seinem Weg durch dieses Leben die ganze Zeit über automatisch durch eine Informationsflut schwimmt und einfach nur alle Schleusen öffnen muss, damit sie ganz von selbst in einen hineinströmt. Wer das nicht kapiert hat, wird verdächtigt, im Kopf schon mindestens 60 zu sein.  

Etwas verpasst zu haben gilt also als schlimm. Noch viel schlimmer ist aber, dass man selbst sehr schnell vom Opfer zum Täter wird. Wer einmal die Scham durchlitten hat, die einen nach der Entgegnung „Äh, das gibt es schon seit letztem Jahr?“ überkommt, der findet große Genugtuung darin, es selbst zu sagen. Ich erwische mich regelmäßig bei dem Impuls, herablassend zu schmunzeln und einen der berühmten Sätze fallen zu lassen, wenn jemand etwas sagt oder postet, das mir schon vor mehreren Wochen oder Monaten untergekommen ist. Bei besonders gehypten Informationen oder Ereignissen reichen sogar schon wenige Tage. Das Gefühl, schon längst über die Zielgerade geschossen zu sein, während jemand anders noch mindestens zwei Runden laufen muss, ist eben nicht nur im Sportunterricht wirklich großartig. Mit dem Unterschied, dass im Falle der verpassten Information der andere nicht mal weiß, dass er zwei Runden zurückhängt. Um den Triumph auszukosten, muss man ihn also darauf hinweisen, also herabsetzen, also „Kanntest du das etwa noch nicht?“ sagen.   

Stimmt es denn, dass man irgendetwas „falsch macht“, wenn man etwas nicht mitbekommen hat? Ist man nicht richtig gepolt, nicht richtig eingestellt für die Welt, wie sie heute funktioniert? Eigentlich nicht. Denn auch, wenn es theoretisch möglich wäre: Ziemlich sicher gibt es niemanden, der immer alles sofort weiß. Es gibt zwar diese Menschen, die wirklich sehr viel nebenbei aufsaugen, die mit möglichst weit geöffneten Schleusen in der Informationsflut schwimmen. Sie haben die meisten Möglichkeiten, Nachzügler zu sticheln. Aber auch sie bekommen mal etwas nicht mit - und geben den sonst unterlegenen Nachzüglern dadurch die Möglichkeit, zurück zu sticheln. Und dann entsteht ein gemeiner, kleiner Teufelskreis, in dem alle darauf aus sind, der erste mit einer neuen, wichtigen Information zu sein.

Das ist schade. Aber deswegen darauf zu bestehen, dass es egal ist, etwas nicht mitzubekommen, ist nicht der richtige Weg. Denn mit einer Egalhaltung macht man es sich immer zu bequem. Und es ist ja eben auch wirklich schön, alles erfahren und wissen zu können. Darum müsste der Umgang mit der Information ein anderer werden. Es sollte keinen Wettlauf mehr darum geben, wer was als erstes weiß und verbreitet. Die Information sollte nicht als Statussymbol benutzt werden, sondern als Ware, die man unendlich oft teilen kann, so oft und so lange, bis jeder sie hat. Man sollte froh statt schadenfroh sein, wenn man etwas schon weiß. Einfach sagen „Ja, kenn ich auch, da gibt es eine lustige/kluge/interessante Geschichte dazu!“ Die Informationen weitergeben, die Nachrücker mitziehen, statt ausstechen. Wie in diesem schönen xkcd-Cartoon namens „Ten Thousand“, in dem es heißt: Jeder, der etwas nicht weiß, ist (zumindest in den USA) einer von 10.000, die an diesem Tag zum ersten Mal davon hören. „Du bist heute einer der glücklichen Zehntausend“ ist doch ein viel schönerer Satz als „Das ist doch schon uralt!“ Und auch schöner als ein langes, genervtes A.

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