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Wie frei ist das Netz?

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"Regierungen der industriellen Welt, Ihr müden Giganten aus Fleisch und Stahl, ich komme aus dem Cyberspace, der neuen Heimat des Geistes. Im Namen der Zukunft bitte ich Euch, Vertreter einer vergangenen Zeit: Laßt uns in Ruhe! Ihr seid bei uns nicht willkommen. Wo wir uns versammeln, besitzt Ihr keine Macht mehr." Nein, diese Sätze kommen weder von Julian Assange noch von Daniel Domscheit-Berg. Was zu Beginn anmutet wie ein Howl 2.0, erwächst zu einer Kampfansage gegen die Zensur im Internet: die Declaration of Independence of Cyberspace, verfasst von John Perry Barlow im Jahr 1996.



15 Jahre später. Nicht nur in China und Ägypten hängt die Maus an der Kette. Anja Viohl von den Reportern ohne Grenzen weiß es genau: "Bis auf Tunesien, wo sich die Situation der Presse- und Internetfreiheit seit einigen Wochen verbessert hat, ist in folgenden Staaten die Online-Zensur nach wie vor besonders stark: China, Iran, Birma, Nordkorea, Turkmenistan, Kuba, Saudi-Arabien, Usbekistan, Syrien und Vietnam." Die Open Net Initiative, ein Watchblog für Online-Zensur, hat im Jahr 2009 40 Staaten gezählt, in denen das Netz nicht frei ist. 2002 waren es nur zwei Länder. Der Grad der Zensur ist natürlich entscheidend und hat Einfluss auf die Karte: Findet sie in Gänze statt (rot) oder nur auf bestimmte Inhalte bezogen (gelb)?

Deutschland ist gelb. Frank Rosengart, Sprecher vom Chaos Computer Club, sagt dazu: "Auch wenn die Grafik die Rechtslage theoretisch richtig darstellt, ist mir in Deutschland keine systematische Internetzensur bekannt." Der Medienrechtsexperte Dr. Ansgar Koreng bestätigt das: "Im Sinne des juristischen, vom Bundesverfassungsgericht vertretenen Zensurbegriffs findet in Deutschland aktuell de facto keine Zensur statt." Man könnte aber auch die nachträgliche Löschung bestimmter online veröffentlichter Informationen als "Zensur" in einem weiteren Sinne auslegen: Diese Inhalte werden in Deutschland aus Gründen des Jugendschutzes, des Persönlichkeitsschutzes und aus urheberrechtlichen Gründen entfernt.



In vielen anderen Staaten ist die Situation drastischer: Blogs und Seiten politischer Gruppierungen sind die am häufigsten von Regierungen zensierten Inhalte im Internet. Australien, ein roter Fleck auf der Karte, verfolgt seit Jahren einen "Plan for Cyber-Safety" - gegen Kinderpornografie. Die Regierung hantiert dabei mit einer Sperrliste, die lange Zeit für die Öffentlichkeit nicht einsehbar war. Bis Wikileaks kam. Daniel Domscheit-Berg kommentierte in seiner vormaligen Funktion als Wikileaks-Pressesprecher den Leak der australischen Sperrliste: "Da gibt es einen Zahnarzt, der auf der Liste steht. Es gibt religiöse Gruppierungen, die auf der Liste stehen. Es gibt Anti-Abtreibungsseiten, die auf der Liste stehen. Das Problem ist, dass es ein geheimes System ist und dass dieses System keiner Revision durch die Öffentlichkeit unterliegt."

Wie im Internet zensiert wird, lässt sich demnach in einem Wort zusammenfassen: untransparent. In China findet alle Zensur hinter einer "Great Firewall" statt. In Neuseeland wurde im März vergangenen Jahres bekannt, dass die Regierung einen Filter gegen "problematische Inhalte" installiert hatte. Die Provider, die den Filter einsetzten, informierten ihre Kunden mit keinem Wort darüber. In Ägypten hat sich kürzlich eine eben so rigorose wie hilflose Variante der Internetzensur offenbart - eine Zensur, die der Öffentlichkeit nicht nur bestimmte Inhalte vorenthält, sondern gleich das gesamte Medium innerhalb von weniger als einer halben Stunde abschaltet.

"Wo wir uns versammeln, besitzt ihr keine Macht mehr", schrieb Barlow. Solange die Obrigkeit diesen virtuellen Ort einfach ausknipsen kann, bleibt Barlows Erklärung eine Vision.

Text: jurek-skrobala - Fotos: yuxiyou.net

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