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Woher wir kommen: Yinka, Bahar und andere deutsche Frauen erzählen

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Stammkundin am Moskauer Flughafen: Natalia Bild: Matthias Wunderlich Natalia Livshitz Schülerin, Nationalität: deutsch/russisch Wie bei allen Menschen, die sich als Migranten bezeichnen, fängt meine Geschichte da an, wo die Reise nach Deutschland starten sollte. In meinem Fall war es der Moskauer Flughafen „Sheremetyevo“, wo ich seit meinem fünften Lebensjahr Stammkundin bin. Seitdem habe ich jährlich das Vergnügen, mich aus verschiedensten Gründen mit den nicht immer freundlichen russischen Beamten anzulegen, die durch meine doppelte Staatsangehörigkeit manchmal etwas irritiert wirken. Aber solche Kleinigkeiten nehme ich gerne in Kauf, wenn es darum geht, meine Großeltern in Kashin zu besuchen , das ist eine Kleinstadt „bei Moskau“. Alles was bis ungefähr 500 Kilometer um die Hauptstadt herum liegt, ist für Russen „bei Moskau“. Kashin liegt ungefähr 200 Kilometer nördlich der Metropole und damit quasi direkt vor dem Stadttor. Genau von da komme ich, und genau dort begann die Geschichte meiner Migration nach Deutschland. Das war am 12. September 1994, da war ich fünf Jahre alt. Die Bedeutung der Reise, die wir an diesem Tag antraten, war mir damals natürlich nicht klar, zumal mir lediglich erzählt wurde, wir wollten unsere Freunde in Deutschland besuchen. „Prima!“ dachte ich und freute mich unheimlich aufs Fliegen und auf die Stewardessen und auf mein Mittagessen hoch oben in der Luft. Die erste Zeit in Deutschland war nicht leicht, besonders für meine Eltern. Für mich war sie vor allem spannend . Wir wohnten in diversen Wohnungen, knüpften neue Kontakte, schauten uns verschiedene deutsche Groß- und Kleinstädte an und entschieden später, dass Mülheim an der Ruhr die beste für uns ist. Warum Mülheim, warum überhaupt Deutschland? Später antworteten meine Eltern darauf mit „Weil es hier einfach schön ist!“. Aber da muss man nicht um den heißen Brei reden: Geld und materieller Wohlstand war am Anfang vermutlich das schwerwiegendste Argument für Deutschland als neue Heimat. In Deutschland lebt es sich angenehmer und als Arzt verdient es sich hier besser. In der ersten Zeit war davon noch nicht viel zu merken, als wir von Sozialhilfe lebten, im Wohnheim untergebracht waren und versuchten, durch Fernsehen unsere Deutschkenntnisse zu verbessern. Aber mit der Zeit haben wir uns eingelebt .Ich kam in den Kindergarten und mein Deutsch machte recht schnell Fortschritte, meine Eltern besuchten den berühmten Deutschkurs für Akademiker der Otto-Benecke-Stiftung und schließlich zogen wir in unsere erste Mietswohnung. Von da an lief es fast wie geschmiert: Mein Vater bekam eine Stelle als Assistenzarzt, unsere finanzielle Situa¬tion verbesserte sich. Wir lernten neue Leute kennen, wir zogen ein paarmal um, wir unternahmen unsere ersten Urlaubsreisen. Im Jahr 2003, da besuchte ich schon die siebte Klasse eines Gymnasiums, gab es ein tolles Highlight: meine Schwester Anna wurde geboren! Russisch ist meine Muttersprache, und das habe ich natürlich nicht verlernt, schließlich sprechen wir auch zu Hause russisch. Russisch lesen ist kein Problem, das haben mir meine Eltern beigebracht, Russisch schreiben fällt mir dagegen eher schwer, da ich leider ziemlich viele Rechtschreibfehler mache. Mein Deutsch dagegen ist ziemlich fehler- und wohl auch akzentfrei. Das liegt vor allem daran, dass ich so jung nach Deutschland und ins Ruhrgebiet gekommen bin und in der Schule meistens aufgepasst habe. Da meine Großeltern väterlicherseits seit etwa zehn Jahren auch in Deutschland leben, bin ich froh, die anderen Großeltern, sozusagen als Bindeglied, in meinem Land zu haben. Denn außer einigen entfernten Verwandten und Freunden, die dort leben, verbindet mich nicht viel mit diesem Land, das ich aber dennoch liebe. Ja, Deutschland ist natürlich auch schön und ja auch irgendwie zu meiner Heimat geworden. Aber ich fühle mich als Russin und fände es schade, wenn ich eines Morgens mit dem Gedanken aufwachen würde, keine russischen Wurzeln mehr zu haben. Ich habe viele Freunde, darunter viele Deutsche, ein paar Russen, etliche Migranten aus anderen Ländern. Im Moment arbeite ich auf mein Abitur hin, genieße das Leben und denke darüber nach, was ich nach der Schule studieren will.


Ein Baum mit kurdischen Wurzeln, einem türkischen Stamm und einer deutschen Krone: Bahar Bild: Matthias Wunderlich Bahar Kizil Rechtsanwaltsfachangestellte, Nationalität: deutsch Woher ich komme? Das ist ein bisschen kompliziert: Meine Eltern kommen ursprünglich aus dem türkischen Teil Kurdistans, aus Südostanatolien. Sie sind mit zwei Sprachen groß geworden, mit Kurdisch als Muttersprache und mit Türkisch als Gesellschaftssprache. Meine Geschwister und ich sind auch zweisprachig groß geworden, jedoch mit Deutsch und Türkisch. Türkisch ist meine Muttersprache, Türkisch wurde vor dem Deutsch bei uns zu Hause immer gesprochen. Aber wenn mich jemand fragt, woher ich komme, sage ich automatisch, dass ich Kurdin bin. Nur, kurdisch sprechen kann ich leider gar nicht, ich kann es nur ein wenig verstehen. Kann ich dann trotzdem sagen, dass ich Kurdin bin? Das ist schon ein wenig paradox, deshalb antworte ich jemandem, der es wirklich wissen will, dass ich eine Deutsch-Kurdin bin, die aus der Türkei kommt, aber von Geburt an in Deutschland lebt. Komisch, was? Oder versuchen wir es mal ein bisschen poetisch: Ich bin ein Baum mit kurdischen Wurzeln, einem türkischen Stamm und einer deutschen Krone. Laut Pass bin ich Deutsche, und ich lebe gern in Deutschland. Meine Freunde und Bekannten leben hier. Deutschland ist meine Heimat. Ich denke schon, da wo ich herkomme und wohne, das ist meine Heimat, und das ist Deutschland. Die Türkei kenne ich gar nicht so richtig gut, ich fahre da, wie viele andere Deutsche, auch nur im Sommer in den Urlaub hin. Die Türkei ist deshalb meine zweite Heimat, ich fahre gerne hin und fühle mich wohl dort, aber ich fahre dann auch gerne wieder nach Hause. Wie so viele meiner Generation lebe ich zwischen zwei Kulturen. Und ich finde es ziemlich schwer, in Deutschland meine eigene Kultur auszuleben. Einerseits will man die eigene Identität nicht verlieren oder vergessen, andererseits will man aber auch in der deutschen Gesellschaft dazugehören. Als Migrantin muss man sich immer doppelt beweisen und manche Kämpfe durchstehen. Ich will später was erreichen. Ich werde genauso viel arbeiten und mich an die Normen halten. Ich werde genauso viele Steuern zahlen wie jede andere Deutsche. Ich will hier Kinder in die Welt setzen und eine eigene Familie gründen. In der Türkei würde mir das schwerfallen, in Deutschland nicht besonders. Ich kenne die Gesetze und die Menschen in diesem Land. Aber ich sehe auch tagtäglich, wo das Zusammenleben nicht so richtig funktioniert. Ich würde mir in Deutschland mehr Einsatz für soziale Integration und Toleranz gegenüber anderen Kulturen und Religionen wünschen. Wie sollen sich arme türkische Mütter denn integrieren und die deutsche Sprache lernen, wenn sie keine deutschen Nachbarn haben, mit denen sie reden können? Es fängt schon da an! Leider sparen die öffentlichen Haushalte immer mehr im sozialen Bereich, zum Beispiel bei Jugendzentren. Das ist genau die falsche Richtung! Ich allein kann nicht viel bewirken, aber ich bin bereit, es jeden Tag aufs Neue zu versuchen. Wie steht´s mit Dir?


Weh you dey come from? Yinka gilt in Nigeria als eine "Oyinbo", eine Weiße. Bild: Dana Niessen Yinka Kehinde Studentin, Nationalität: deutsch „Woher kommst du eigentlich?“ Dies werde ich in Gesprächen auf Parties oder an der Uni meistens zuerst gefragt. Für mich ist diese Frage gar nicht so einfach zu beantworten. Oftmals weiß ich nicht, ob mein Wohnort, mein Geburtsort oder die Herkunft meiner Eltern gemeint ist. In der Regel antworte ich kurz und knapp: „Ich bin in Bielefeld geboren und habe 13 Jahre in Nigeria gewohnt. Meine Mutter ist Deutsche, mein Vater Nigerianer. Jetzt lebe und studiere ich in Köln“. Das sind die Fakten. „Warum sprichst du dann so gut Deutsch?“ ist meistens eine weitere Frage, auf die ich mit „...es ist meine Muttersprache“ antworte. Meine ersten sieben Jahre habe ich in Deutschland verbracht. Hinzu kommt, dass ich in Nigeria auf eine deutsche Schule gegangen bin. In Nigeria fragen die Leute „Weh you dey come from?“. Und meine Antwort fällt ähnlich aus, nur eben auf Englisch. Denn als wir nach Nigeria zogen, lernte ich natürlich auch die dortige Amtssprache. Ich wuchs bilingual auf. Zuhause sprachen wir einen Mix aus Deutsch und Englisch. Heute noch fallen mir manchmal mitten imsentence Wörter einfach schneller auf Englisch ein! Oder eine Bemerkung, ein Ausruf passt einfach besser auf Pidgin-Englisch. Na so e be, when you grow up in a mixed environment and two cultures! Viele wollen wissen: „Sprichst du auch Nigerianisch?“ So etwas wie eine nigerianische Sprache existiert aber gar nicht. In Nigeria gibt es über 300 verschiedene Sprachen. Es ist ein Land bestehend aus vielen verschiedenen Ethnien, Religionen und Kulturen. Yoruba, die Muttersprache meines Vaters, beherrsche ich leider nicht. Ich verstehe zwar viel, aber mein Sprechvermögen beschränkt sich auf Begrüßungen und Grundlegendes. Monatelang habe ich dem Tag entgegengefiebert, an dem es nach sieben Jahren Deutschland das erste Mal wieder nach Nigeria gehen sollte. Viele Fragen beschäftigten mich: Was hat sich verändert? Was ist immer noch wie früher? Wie wird es sein, wieder zu Hause zu sein? Dann endlich ist es soweit. Back in Nigeria! Als wir aus dem Flugzeug steigen, nicht wie erwartet feuchtwarmes Saunawetter, sondern angenehm warme Abendluft. Es ist 20 Uhr und bereits vollkommen dunkel. Draußen werden wir mit „Welcome! Welcome to Nigeria!“ empfangen. Mein Onkel ist auch darunter. Dann geht es los: nach Hause, nach Otta, wo Oma, meine Tante, Cousinen und Cousins schon auf uns warten. Die Straßen sehen aus wie früher, soweit ich das im Dunkeln beurteilen kann. Sie sind immer noch schlecht, hin und wieder muss der Fahrer einem Schlagloch ausweichen. Schon bald stehen wir im Go-slow. Am Straßenrand flackern hunderte kleine Flammen in den Kerosinlampen der Marktverkäuferinnen. Aus den zwei Straßenspuren haben sich viereinhalb gebildet. Hinter uns, neben und vor uns wird gehupt. Links möchte ein überfüllter Danfo von uns reingelassen werden: der Beifahrer winkt langsam mit ausgestrecktem Arm in die noch nicht existierende Lücke vor uns. Er ruft „I beg, I beg I wan enter now!“ Es stinkt nach Abgasen. In den schmalen Zwischenräumen der Autos tauchen Straßenverkäufer auf. Es gibt Plantainchips, kalte Softdrinks, hartgekochte Eier, CDs, VCDs und DVDs, Ladekarten fürs Handyguthaben und einiges mehr. Ich denke: „Warum nur habe ich sieben Jahre gebraucht, um wieder hierher zu kommen?“ Es ist ein seltsames Gefühl…aber auch ein gutes Gefühl!

Yinkas Familie bei einem Besuch in Nigeria. Bild: Dana Niessen Zuhause werden wir freudig empfangen. Meine Tante hat für uns gekocht. Als wir uns an den Tisch setzen, fällt der Strom aus. Das kennen wir schon von früher, doch damals hatte man nicht grundsätzlich nur 50 Prozent der Zeit Strom. Am nächsten Morgen werden mein Freund Max und ich früh wach. Als irgendwo in der Nachbarschaft ein Hahn kräht, ist es noch dunkel, ich schlafe aber schnell wieder ein. Stunden später werde ich endgültig wach, denn es erklingt lauter Kirchengesang. Daran werden wir uns in den nächsten Wochen noch gewöhnen. Vor allem nachts ertönen oft Keyboard und Gesang aus der Ferne. Zum Frühstück gibt es weiches Brot mit scharfem Rührei, dazu Kaffee, Lipton tea und Ogi, außerdem Nutella aus Deutschland. „E. káàro.“, begrüße ich Oma, die, wie ich finde, ziemlich „geschrumpft“ ist. Obwohl sie kaum noch sehen kann, erkennt sie mich an meiner Stimme. Eni, meine dreijährige Cousine, muss uns erst noch kennenlernen. Die Kleine nehmen wir direkt an unserem ersten Tag mit auf den Markt. Der Weg dorthin ist immer noch der gleiche, doch es sind eine Menge Häuser, Müll, Autos und Mopeds dazugekommen. Man muss aufpassen, nicht von einem Okada angefahren zu werden. Kaum erreichen wir die ersten Verkaufsstände, hören wir Rufe „Oyinbo!“, „Oyinbo, come and buy!“ „Oyinbo, how are you?“ Auch dies wird uns die nächsten Wochen täglich begleiten. Oyinbo bedeutet Weiße/Weißer. Nicht anders als in Deutschland falle ich hier auf. Auch wenn es nicht negativ gemeint ist, nervt es, pausenlos als Fremde, Andere und als etwas Außergewöhnliches gesehen zu werden. Für Max ist es eine völlig neue Erfahrung. In unserer Nachbarschaft ruft uns keiner hinterher. Die Leute kennen uns, auch wenn wir seit sieben Jahren nicht mehr dort leben. Man grüßt sich, hält ein kleines Pläuschchen, lässt die Familie grüßen. Die nächsten Tage bekommen wir fast täglich Besuch von Nachbarn und Bekannten, die gehört haben, dass wir im Lande sind. Dies ist in Nigeria so üblich. Meist empfängt mein Vater sie, da meine Mutter zusammen mit uns Kindern unterwegs ist. Wir fahren nach Lagos auf den Markt, zu unserer alten Schule und zum Strand. Auf dem Stoffmarkt in Abeokuta kaufen wir uns Stoffe und lassen daraus nigerianische Kleider nähen. Sie sind nicht das einzige, was wir später aus dem Urlaub mitbringen. Nun bin ich seit drei Wochen wieder in Deutschland und weiß nicht, wann ich das nächste Mal nach Nigeria fliegen werde. Es ist ein gemischtes Gefühl. Ich bin zwar in Deutschland, doch mein Alltag ist auch von Nigeria und generell vom Interesse an verschiedenen Kulturen geprägt. Mein Essen würze ich etwas schärfer als es hier üblich ist. Ich trage nigerianischen Schmuck und höre 2Face. Meine Magisterarbeit habe ich über nigerianische Literatur, ihre Sprache und ihren hybriden Charakter geschrieben. Ich finde, die nigerianische Literatur spiegelt den Zusammenprall und das Vermischen von verschiedenen Kulturen unheimlich gut wider. Nun kommen bald die Abschlussprüfungen auf mich zu, und ich habe noch viel zu lernen. Als Ausgleich unternehme ich in meiner freien Zeit viel mit meiner Band „Jamanex“.

+++++++++ Die Texte von Yinka, Bahar und Natalia entnehmen wir mit freundlicher Genehmigung der aktuellen Ausgabe des Magazins Gazelle. "Gazelle" versteht sich als multikulturelles Frauenmagazin und hat sich zum Ziel gesetzt, „spezifische Probleme, Bedürfnisse und Interessen der in der Bundesrepublik lebenden Migrantinnen und deutschen Bürgerinnen einzugehen und ihnen eine Plattform zum Austausch zu bieten, um somit einen Beitrag zum interkulturellen Verständnis und Zusammenleben zu leisten.“ Ein Porträt des Gazelle-Magazins erschien auf bereits auf jetzt.de.

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