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Zur Brust genommen

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Wenn man in diesen Tagen in Berlin durch die Friedrichstraße spaziert, sieht man an den weiblichen Schaufensterpuppen und auf den Werbeplakaten der Modeläden viele kurze Kleider, bauchnabelfreie Tops und tiefe Rückenausschnitte. Letztere reichen in manchen Fällen beinahe bis zum Steißbein. Was man hingegen gar nicht mehr sieht: tief ausgeschnittene Dekolletés. 

Das ist seltsam. Liest man nicht ständig davon, wie übersexualisiert unsere Gesellschaft sei? Von jungen Mädchen, die gedankenlos Nacktbilder verschicken und von Miley Cyrus, die auf Instagram dauernd ihre Nippel meint zeigen zu müssen? Ginge es nach diesen Beobachtungen aus der Medienwelt, müssten Brüste gerade ziemlich in sein. Sind sie aber nicht. Tatsächlich gelten Frauen, die heute mit tiefem Dekolleté rumlaufen, als billig. Als  „Daniela Katzenberger“-Typ: talentfrei, aber clever genug, auf ihren Silikonbrüsten eine Karriere aufzubauen. Die Durchschnittsfrau, deren Leben nicht von einer eigenen Realityshow begleitet wird, lehnt sowas ab. Sind Brüste also aus der Mode?

Professor Stefan Hirschauer ist Soziologe und Genderforscher an der Universität Mainz. Er hat sich viel mit der Soziologie unseres Körpers und Geschlechterrollen beschäftigt. Am Telefon sagt er als erstes den Satz: „Ich glaube, dass ihre These nicht stimmt. Aber die Beobachtung ist trotzdem interessant.“ Hirschauer ist der Meinung: „So lange es Bikinis für Fünfjährige gibt, sind Brüste immer noch hoch im Kurs.“ Für ihn ist das weibliche Dekolleté Teil eines Gendercodes, der sich bei allem Gerede von Gleichberechtigung und Emanzipation nicht wegdenken lässt: Männer haben eine Brust, Frauen tragen sie. Stefan Hirschauer zufolge tragen unsere Bekleidungsvorschriften in der Öffentlichkeit, also Bikinis und Dekolletés, dazu bei, diesen Unterschied besonders zu betonen. Die Brüste von Frauen sollen sexuell reizvoll erscheinen.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Ward seit Jahren kaum mehr gesehen: Das Dekolleté

Gleichzeitig hat Stefan Hirschauer aber auch einen interessanten Denkansatz dafür parat, warum es uns so seltsam vorkommt, wenn Frauen in unserem Umfeld sich tief dekolletieren. Er sagt: „Frauen können schlecht Karriere machen, wenn sie die ganze Aufmerksamkeit auf ihre Brüste lenken. Das gilt, wo es auf Leistung ankommt, als aufdringlich und Zeichen von Schlampigkeit oder Prolligkeit.“ Also doch das Katzenberger-Phänomen: Wer Brüste zeigt, dem wird direkt Sachkompetenz abgesprochen. „Über eine Richterin, die sich erst einmal einen großen V-Ausschnitt in die Robe schneidet, würden alle sagen, dass sie spinnt“, sagt Hirschauer. Aus seiner Sicht gilt das aber auch für Männer: „Ein Richter, der mit Goldkettchen ins Gericht zu kommt, wäre damit ebenfalls schlecht beraten“, sagt Hirschauer. Aus Hirschauers Sicht können Männer das Problem des unangemessenen Outfits allerdings leichter umgehen, da sie in vielen Berufen eine entidividualisierende Uniform tragen: den Anzug. Frauen haben bei der Wahl ihrer Kleidung viel mehr Spielraum.

Warum Brüste im beruflichen Kontext gar nicht erst richtig auftauchen, wäre somit geklärt. Aber wie sieht es bei der Abend- und Freizeitgarderobe aus? Gefühlt ging vor zehn Jahren jede Frau mit tief-ausgeschnitten Neckholder-Top in den Club, heute trägt man sowas nur noch am Strand. Was hat sich da verändert in unseren Kleidungsgewohnheiten des Alltags?

Kein Dekolleté = Emanzipierte Frau?

Barbara Vinken, Professorin für allgemeine Literaturwissenschaft an der LMU München, hat 2013 das Buch „Angezogen. Das Geheimnis der Mode“ veröffentlicht. Sie geht darin der Frage nach, warum wir uns kleiden, wie wir uns kleiden. Am Telefon erklärt sie, die aktuelle Mode orientiere sich am Typ der garçonne, einer Frau mit knabenhaftem Körper: schlanke, lange Beine und wenig oder keine Oberweite.

Aus ihrer Sicht handelt es dabei keinesfalls um einen kurzlebigen Trend, sondern um eine langfristige, historisch nachvollziehbare Entwicklung: „In der Mode gab es auf dem Weg zur modernen Frau eine Verlagerung der erotischen Zone: Früher wurde das Dekolleté betont, nun sind es die Beine und der Po. Man könnte auch sagen: Die Frauen eignen sich die männliche erotische Zone an.“

Denn vor der Französischen Revolution und der Renaissance wurden bei Männern stark die Beine betont, die berühmten Bilder vom Sonnenkönig Luis XIV. in einer Art Leggings verdeutlichen, was Vinken meint. Dass wir heute an Frauen verstärkt kurze Röcke mit blickdichten Strumpfhosen, statt Riesendekolletés sehen, kann dementsprechend auch als modische Annäherung der Frau an den Mann betrachtet werden. Wenn das Dekolleté dabei auftaucht, dann aus Vinkens Sicht immer nur als Zitat einer vergangenen Zeit – wie es zum Beispiel beim Dirndl der Fall ist.

Warum wir das Dekolleté allerdings als "prollig" empfinden, kann auch Barbara Vinken nur vermuten. "Rousseau schrieb über die sehr tiefen Dekolletés der Adeligen, dass diese sich so entblößten, um nicht mit den Bürgerinnen verwechselt zu werden. Das Volk galt Rousseau als tugendhaft, die Aristokratinnen sahen im Kontrast dazu aus wie Huren“, sagt Vinken. In den 70er Jahren könnte diese Sichtweise sich gewandelt haben: „Damals gab es in Deutschland eine starke Pornowelle; in der heilen Bergwelt, in Dirndl und Lederhose, war die Welt noch in Ordnung, Männer Männer und Frauen Frauen, die Holz vor der Hütten hatten. Diese Filme hatten etwas Superspießiges und vielleicht haben die ausladenden Dekolletés seitdem den Beigeschmack des Prolligen", sagt Vinken.

Sind die versteckten Brüste heutzutage also vor allem ein Zeichen der gebildeten, emanzipierten Frau, die arbeiten geht? Und das Riesendekolleté das Erkennungszeichen von Frauen aus einer Lebenswelt, in der man von Männern gar nicht als gleichberechtigte Frau wahrgenommen werden will?

Intuitiv möchte man widersprechen: Was ist mit den Feministinnen der Femen-Gruppe, gelten die nicht als gebildet? Was ist mit Rihanna? Oder Scout Willis, die Tochter von Action-Schauspieler Bruce Willis? Letztere zwei laden auf Instagram Bilder ihrer Brüste hoch, um gegen die dort herrschende Zensur zu protestieren. Sind die deshalb Prolls?

Vielleicht geht die Antwort so: Die Brüste, die wir in den Medien oder auf sozialen Netzwerken sehen, haben mit unserer alltäglichen Lebenswelt nur begrenzt zu tun. Es gibt sie auf Gala-Empfängen und Instagram, dem privaten roten Teppich unserer Zeit, und dort stehen sie für eine freizügige, vielleicht tatsächlich 'übersexualisierte' Gesellschaft. Sie etablieren fragwürdige Körperideale und animieren gerade junge Mädchen zu ungesunden Selbstbildern. Mit der Realität der jungen Erwachsenen, der arbeitenden Frau hat das allerdings nicht mehr viel zu tun.

Oder, wenn man der Argumentation des Soziologen Hirschauer folgt: Würde Rihanna in ihren Outfits in einem Gerichtssaal auftreten, würde sie keiner mehr ernst nehmen. Umgekehrt gab es ja zum Beispiel auch eine Riesendiskussion, als Kanzlerin Angela Merkel vor einigen Jahren in der Oper in Oslo ihr Dekolleté zeigte. Vermutlich sind wir dann doch alle ein bisschen mehr Angela Merkel als Rihanna - es wäre eigentlich okay, die Brüste häufiger zu zeigen. Aber man zettelt damit direkt eine Diskussion über den eigenen Körper und nicht über den Intellekt an. Angela Merkel hatte das Kleid zumindest nie wieder an.



Text: charlotte-haunhorst - Bild: Photocase.com/Luh

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