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Die Willkommenen

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München ist freundlich, da kann Dzihad gucken, wohin er will. Kurz nach seiner Ankunft hat er sich in der Innenstadt verirrt, und die Passanten erklärten ihm geduldig den Weg. Heute Morgen, zum Beginn seines ersten Arbeitstags als Koch, überreichte ihm der Ausbilder eine kleine orangefarbene Schultüte, gefüllt mit Gummibärchen und Traubenzucker. Und als ihm später beim Nachfüllen des Frühstücksbuffets der Joghurt überschwappte, zwinkerten ihm die anderen Köche freundschaftlich zu. „In München“, sagt Dzihad, „wirst du nicht allein gelassen.“

Es ist ein heißer Nachmittag im August, die Sonne brennt auf die Stadt, akkurat gestutzte Buchsbaumkugeln zieren die Einfahrt des Luxushotels, in dem Dzihad nun arbeiten wird. Vor dem Haus rühren Männer in weißen Oberhemden in ihrem Cappuccino, hinter dem Haus zieht Dzihad die Mitarbeitertür ins Schloss und seinen Anglerhut in die Stirn. Es ist sein erster Feierabend, keine hundert Meter Luftlinie entfernt baden die Münchner in der frisch renaturierten Isar. Dzihad weiß nichts von den Isarauen, einen Stadtführer hat er noch nicht gelesen.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Dzihad.

Dzihad, 22, ist gebürtiger Kosovo-Albaner. Vor drei Tagen ist er aus Zeitz in Sachsen-Anhalt nach München gezogen, mit drei Koffern, auf dem Rücksitz einer Mitfahrgelegenheit. Er kommt nicht wegen des Sommers, nicht für die Parks oder wegen der Biergärten. Er kommt, um Koch zu werden. Damit ist Dzihad ein kleiner Glücksfall für München, denn Menschen wie er fehlen der Stadt. Es fehlen Auszubildende.
Der Weg zu Dzihads Wohnheim führt durch den Stadtteil Haidhausen. Er läuft vorbei an renovierten Altbauten, an Kitas und an einer französischen Vinothek, in der das Hauptgericht 17 Euro kostet. München mangelt es an wenig. Löhne und Lebensstandard sind hoch, die Arbeitslosigkeit niedrig wie fast nirgends in Deutschland. Die Stadt ist das, was Claudia Baubkus von der Arbeitsagentur München einen „genialen Wirtschaftsraum“ nennt. Baubkus ist Expertin für den Ausbildungsmarkt, sie erklärt, dass München „einen hervorragenden Branchenmix“ biete. Unternehmen aller Sektoren lassen sich hier nieder und wirken wie Magneten auf gut ausgebildete Menschen aus ganz Deutschland. Allein: Eine Stadt braucht nicht nur Akademiker. Sie funktioniert nur dann, wenn es auch Menschen gibt, die Straßen teeren, Brezen backen und S-Bahnen steuern.

Über 12.000 freie Ausbildungsstellen meldeten Münchner Betriebe im Jahr 2010 bei Claudia Baubkus. Doch die Zeiten sind vorbei, als ein Meister aus dreißig Bewerbern den besten Lehrling wählen konnte. Der demografische Wandel dampft die Zahl der Schulabgänger ein. Und die überlegen sich dreimal, ob sie sich das Leben im teuren München leisten können. Als im Herbst alle Jugendlichen in Claudia Baubkus’ Bewerber­kartei einen Ausbildungsplatz hatten, standen in der Datenbank immer noch mehr als 1000 Stellen, für die es keine Kandidaten gab. Der Rohstoff „Azubi“ wird überall knapp, manche Unternehmen werben schon in Tschechien oder Bulgarien um Auszubildende. In München ist es noch nicht so weit. Die Betriebe haben allerdings erkannt, dass sie nicht mehr so wählerisch sein dürfen. Mit Unterstützung der Arbeitsagentur stellen Unternehmen heute immer häufiger Jugendliche mit schlechteren Noten ein. Auf Probe. Claudia Baubkus nennt das „eine Brücke in die Ausbildung“ für diejenigen, die früher keine Chance gehabt hätten. Die Erfolgsquote dieses Programms liege bei 60 Prozent, sagt sie. Vor Kurzem ist einer der Teilnehmer, ein Junge ohne Hauptschulabschluss, bester Malergeselle seines Jahrgangs geworden.

Ein anderer Tag in München. Im Wartezimmer der Arbeitsagentur, dritter Stock, Abteilung „U25“, ruft eine Beraterin Dzihads Namen. Woher er komme, fragt sie, was für eine Ausbildung er hier mache – „Koch, wie schön!“ – und ob er irgendwelche Probleme habe, so ganz neu in der Stadt? „Nein“, sagt Dzihad. Alles bestens. Nur das Geld der Ausbildungsbeihilfe, das bräuchte er bitte bald. Die Beraterin reicht ihm einen Packen mit Formularen. Im ersten Lehrjahr verdient Dzihad 570 Euro brutto im Monat. Kaum genug für ein Leben in München. Deshalb beantragt er die „Berufsausbildungsbeihilfe“. Das ist Geld, das die Abteilung von Claudia Baubkus an Lehrlinge zahlt, die von ihrem Gehalt allein nicht leben können. Etwa 680 Euro, das hat Dzihad im Internet ausgerechnet, müssten ihm monatlich zustehen. Bis das erste Geld auf seinem Konto ist, wird er einen Kredit aufnehmen. Auch dafür hat ihm die Beraterin das passende Formular gegeben. In der Arbeitsagentur kennt man die Probleme der Münchner Lehrlinge.

Am Abend tritt Dzihad ins Foyer seiner neuen Bleibe. Das katholische Wohnheim Salesianum, kurz Sales, ist ein verwinkelter vierstöckiger Bau mit Schwimmbad, Turnhalle und riesigem Sportplatz, über dem ein weißer Kirchturm in den Himmel ragt. Im Foyer riecht es nach Automatenkaffee, der bärtige Pförtner spielt Gitarre und singt aus voller Kehle einen Song von Tom Petty.

Von den immer weniger Jugendlichen, die für ihre Ausbildung nach München kommen, findet man im Sales sehr viele auf einem Fleck. 127 Auszubildende zwischen 16 und 23 Jahren leben hier. Viele haben, wenn sie einziehen, noch nie außerhalb ihres Elternhauses gelebt. Pater Stefan Stöhr leitet das Wohnheim, ein 40-jähriger Mann mit wachem Blick und einem Kugelschreiber in der Hemdtasche. „Das Sales“, sagt er, „bietet den Jugendlichen mehr als nur ein Bett und ein Dach überm Kopf. Nämlich eine Heimat, ein Heimkommen.“ Nach einem neunstündigen Arbeitstag wartet auf die Azubis hier nicht nur ein warmes Essen im Speisesaal. In den Wohngruppen haben sie mit den Sozialpädagogen auch immer einen „Andockpunkt“, wie Pater Stöhr sagt. „Oft hilft es einem Jugendlichen schon, wenn abends jemand fragt: War der Tag gut, war er schlecht? Ist dir der Meister auf die Füße gestiegen?“

Stöhr weiß auch um die schwierige finan­zielle Lage, in der viele Azubis in München sind, „schließlich will ich mir ja das leisten, was ich um mich herum sehe“: Autos, iPhones, Markenklamotten – mit einem Lehrgehalt stoße man da schnell an Grenzen. Das kostenlose Freizeitprogramm ist deshalb einer der wichtigsten Pfeiler im Sales. Es gibt Basketball- und Kegelturniere, einen Billard- und einen Kraftraum, in der Lounge im Erdgeschoss läuft jeden Abend Fußball auf der Leinwand. So kann nach Feierabend jeder Bewohner etwas unternehmen, selbst wenn er schon Mitte des Monats pleite ist.
In Dzihads Zimmer, dritter Stock, hinten rechts, liegt auf dem Boden vor dem Bett ein Stück Heimat. Es ist ein weinroter Teppich, etwas größer als ein Fußabstreifer, ein paar weiße Flusen haben sich im Stoff festgetreten. Der Teppich zierte jahrelang die Wohnung seiner Eltern, begleitete die Familie auf jedem der sieben Umzüge quer durch Deutschland, und wenn jetzt in München morgens um 4.20 Uhr der Funkwecker und drei Minuten später der Handyalarm Dzihads Tag beginnen lassen, ist der Teppich das Erste, was seine nackten Fußsohlen berühren. Sonst erinnert hier nicht viel an daheim. Im Regal stehen eine angebrochene Flasche Weichspüler und sieben Staffeln Two and a Half Men. Auf dem Flur riecht es nach Sport-Duschgel. Es ist 17 Uhr, Feierabend für die meisten Sales-Bewohner. In kurzen Sporthosen trotten sie in den Aufenthaltsraum neben Dzihads Zimmer und lassen sich in die Sofas fallen. Am Tisch sitzt Simon, 19, und löst ein Kreuzworträtsel. Er hat Kaffee aufgesetzt, das heiße Wasser tröpfelt durch das Pulver, Simon weiß, wie müde die Mitbewohner nach einem Arbeitstag sind. Er ist bald ausgelernter Steinmetz, er lebt seit drei Jahren hier und damit fast am längsten von allen. Für Simon ist das Sales wie eine zweite Familie. Er kommt aus der Nähe von München, aber daheim, erzählt er, habe es früher oft „geknallt“, deshalb war das Wohnheim die beste Lösung, als er 16 war und seine Lehre begann. Die Gemeinschaft in der Wohngruppe, die pädagogische Betreuung, „nicht aufdringlich, sondern locker – das prägt dich fürs restliche Leben“. An das Leben mit Lehrlingsbudget hat er sich gewöhnt, auch daran, sagt er, dass ihn nachmittags, wenn er mit den Kollegen nach neun Stunden auf der Baustelle staubig und verschwitzt im Transporter sitzt und zurück in die Werkstatt fährt, auf der Leopoldstraße schon mal fünf Porsche hintereinander überholen. Mit den Jahren hat er sich eine pragmatische Sicht auf die Stadt antrainiert. Statt wie die Gesellen mittags in der Metzgerei acht Euro für Essen auszugeben, geht Simon einmal pro Woche in den Supermarkt und nimmt sich morgens belegte Vollkornbrote mit auf den Bau. „Man muss halt ein bisschen rechnen.“

Einen Stuhl weiter streicht Philipp Nutella auf eine Semmel. Er ist 16 und lernt Konditor bei einer Münchner Feinkostkette. „Ich frag mich schon oft, wie das funktioniert“, sagt er und hält inne – „dass die Münchner so viel Geld haben!“ Vier Euro für ein Bier, in Münchner Kneipen eher normal, das gebe es nicht, daheim im Bayerischen Wald. Er schüttelt den Kopf, und neben ihm tut Martin, 19, das Gleiche. Auch er kennt das München-Dilemma. Martin ist frisch ausgelernt und wurde von seinem Betrieb, den Stadtwerken, sofort übernommen. Ihn stören „die vielen Leute, die sagen: Ich hab, ich kann, ich bin.“ Aber auch er hat sich arrangiert. In seiner Heimat in Sachsen, sagt Martin, verdiene ein Facharbeiter gerade so viel wie ein Azubi hier – und das ohne Aufstiegsperspektive. „München ist schön, die Arbeit ist hier“, sagt er und zieht eine Schulter hoch. „Und die richtigen Leute findet man immer irgendwie.“ Alle am Tisch nicken.

Ein paar Tage später läuft Dzihad im Muskelshirt zum Kraftraum. Er weiß, auch wenn er viel zwischen Küche und Buffet hin- und herlaufen muss: Die Arbeit als Koch kann schnell dick machen. Der Trainer im Salesianum soll ihm deshalb einen Fitnessplan entwerfen. Wenn ihm im Treppenhaus jemand entgegenkommt, ruft er schon „Servus“ – wie die Münchner Kollegen in der Küche. In den ersten Tagen, sagt er, hätten ihn viele wegen seiner sächsischen Sprachfärbung nicht verstanden. Seitdem achtet er darauf, statt „nicht“ nur noch „ned“ zu sagen, statt „das“ nur noch „des“, statt „ich“ nur noch „i“. Ein kleines bisschen, sagt er, sei er angekommen in der neuen Stadt. „Wenn sich jetzt noch die Beine an die Arbeit gewöhnen“, sagt Dzihad, „dann passt des.“

Text: jan-stremmel - Foto: Fritz Beck

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