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Home sweet Schullandheim

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Seit Jessica denken kann, gibt es bei ihr zu Hause das gleiche Essen: montags Spaghetti Bolognese, dienstags Geschnetzeltes mit Spätzle, mittwochs Gulasch mit Nudeln, donnerstags Blätterteigstrudel mit Spinat-Feta-Füllung und am Freitag Schinkennudeln. 

Jessicas Eltern führen das Schullandheim Endlhausen. Das kleine Dorf liegt im Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen und ist so winzig, dass es nicht einmal einen Wikipedia-Eintrag darüber gibt. Für andere Kinder ist der Ausflug in diese Einöde eine seltene Abwechslung vom Schulalltag, ein paar Tage raus aus der Stadt, aufs Land, in die Abgeschiedenheit. Jessica ist hier aufgewachsen. Abgeschiedenheit, Dörflichkeit, Schullandheimessen – das ist ihr Alltag. Ihr Zuhause.  

Jessica ist 16 Jahre alt. Sie sagt: „Das mit dem Essen ist schon okay, da sind ja überall Nudeln mit dabei. Nudeln gehen immer. Wenn ich, wie heute, keine Lust auf Gulasch habe, mach ich Ketchup drüber.“ Jessica ist gerade aus der Schule gekommen, hat ihren Roller in der Einfahrt geparkt und sitzt in Bikerjacke, Bikerboots und einer mit Stars and Stripes bedruckten Leggins am Tisch der hellen Landheimküche. Sie wirkt älter, als sie ist, und ein bisschen, als müsse man sich anstrengen, sie zu beeindrucken. Wird man früher erwachsen, wenn man jede Woche von fremden, stets wechselnden Gesichtern umgeben ist? In jedem Fall entwickelt man eine besondere Sicht auf Menschen und das Leben an sich.  

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Jessica und ihre Mutter Andrea (links) vor dem Haus.

Die Mittagszeit ist gerade vorbei, die Klasse, die gerade zu Gast ist, zur Wanderung aufgebrochen. Es ist still in dem 300 Jahre alten Bauernhaus. Vom Hof hört man nur das Geplapper und Gequäke von Jessicas jüngsten Brüdern. Aus der Küche, wo ihre Oma und Uroma gerade das Geschirr vom Mittagessen aufräumen, dringt leises Klappern. Hinter Jessica hockt ihre Mutter, Andrea Calcagno, 36, auf einer Stuhllehne. Sie trägt ein locker sitzendes Longsleeve und abgewetzte Jeans. Mit ihrem italienischen Mann Franco führt sie nun schon seit gut zwölf Jahren das Schullandheim. Sie selbst ist auch hier aufgewachsen.   Die meisten Schullandheime werden von Catering-Services versorgt oder beschäftigen Angestellte, die abends wieder nach Hause gehen. Im Landheim Endlhausen ist das anders. Seit 85 Jahren gehört es zum Wittelsbacher-Gymnasium in München und ist immer in Familienhand geblieben. Die Calcagnos  wohnen im linken, neueren Teil des zweistöckigen Hauses. Außer im Winter und in den Ferien reisen Woche für Woche Schüler an, fünfte bis elfte Klasse. Feierabend gibt es für die Familie nicht. Wenn irgendetwas ist, werden sie herausgeklingelt. Und irgendetwas ist immer. Der private Bereich der Calcagnos vermischt sich mit dem Landheim. Andrea hebt einen ihrer quengelnden zweijährigen Zwillinge auf ihren Schoß. „Mein und Dein gibt es gar nicht bei uns. Wenn ich fürs Landheim was brauche, eine Wärmflasche oder ein Fieberthermometer, dann hole ich es von uns oben, und wenn ich mal die Kaffeemaschine von unten brauche, hole ich sie mir halt hoch.“ Wanderungen, Specksteinschnitzen und bunte Abende zwischen stets wechselnden Gesichtern gehören für Jessica und ihren achtjährigen Bruder Maurizio genauso zum Alltag wie in der Küche zu helfen und Hausaufgaben zu machen.  

Wenn montags um zehn der Bus vor dem Haus hält, um gut dreißig Schüler und zwei Lehrer auszuspucken und sie erst am Freitag um zwei wieder einzusammeln, weiß Mutter Andrea schnell, ob Maurizio mit den Schülern spielen darf oder nicht. „Je nachdem, wie die in der ersten Stunde ihre Zimmer beziehen und wie sie miteinander umgehen, ist für mich klar, ob er ein Go kriegt oder nicht.“ Fällt innerhalb von zwanzig Minuten das zehnte Schimpfwort, kriegt er keines.  

Das lernt man, wenn man ständig mit neuen Gruppen fremder Jugendlicher konfrontiert wird: Gruppendynamik in Rekordzeit zu beobachten und zu durchschauen. Jessica bestätigt das. „Die brauchen nur aus dem Bus zu steigen, und man sieht sofort, wer das gemobbte Kind der Klasse ist.“ Als kleines Mädchen hat sie sich immer zu den Außenseitern gesetzt. Die waren froh, dass da auch noch andere Kinder waren. Kinder, die sie nicht geärgert, sondern sich für sie eingesetzt haben. Jessica kennt auch das Gegenteil: Je älter sie wird, desto öfter sind gleichaltrige Schülerinnen eifersüchtig, dass die Jungs auch mit ihr ihre Späße machen.  

Normalerweise fangen Kleinkinder früh an zu „fremdeln“. Bei den Calcagno-Kindern war das anders. Sie wurden oft schon morgens in der Früh von Schülern in den Kindergarten getragen, mittags wieder abgeholt und auf den Schultern mit zum Wandern und zum Spielen genommen. Kontakte mit Menschen zu schließen war für Jessica nie ein Problem. Heute interessiert sie sich zwar nicht mehr dafür, überall mitzugehen. Die Fähigkeit, offen und ohne Schüchternheit auf Menschen zuzugehen, ist ihr geblieben. „Wenn ich im Urlaub bin oder irgendwo, wo ich niemanden kenne, dann dauert es keine halbe Stunde, bis ich neue Leute kennenlerne.“ Was Jessica mit 16 Jahren an Sozialkompetenz gelernt hat, lassen andere sich später an der Universität in Soft-Skill-Kursen beibringen.  

Von der Küche aus tritt man direkt in den Speisesaal, ein L-förmiges Esszimmer mit Kachelofen, der den gesamten rechten Teil des Landheims heizt. Hier stehen mittags und abends die Schüler Schlange, um sich in der Küche Essen zu holen. Die Decken sind niedrig im alten Bauernhaus, und bei jedem Schritt knarzen die Dielen. An den Wänden hängen Heiligenbilder und vergilbte Fotos, etwa vom Oberstudienrat Forster, Lehrer am Wittelsbacher-Gymnasium und Landheimbetreuer von 1964 bis 1989.  

Das ganze Haus wirkt wie das Setting für die Verfilmung eines Erich-Kästner-Romans, oben bei den Jungs reihen sich dicht an dicht einfache Metallpritschen, unten in den Mädchenzimmern stehen alte Stockbetten aus Holz. Die Betten und Wände sind an einigen Stellen so dicht bekritzelt, dass man beinahe kein Holz mehr darunter erkennt. Unzählige Telefonnummern stehen an den Bettkanten und Deckenbalken. Einen davon hat Jessicas Mutter „freigegeben“ zum Bekritzeln, was daraufgemalt wird, darf stehen bleiben. Die Schüler malen die anderen Wände trotzdem voll. Oft müssen sie vor der Abreise schrubben, denn Andrea kennt jede Ecke und weiß genau, was schon dort stand und was nicht. Manchmal bekommt sie dann Sätze zu hören wie: „Für so etwas habe ich zu Hause eine Putzfrau.“ Wenn die Schüler unhöflich werden, warnt Andrea ihre eigenen Kinder: „Wagt niemals, euch so zu benehmen.“ Jessica haben diese Erfahrungen geprägt. Wenn sie selbst im Schullandheim oder bei Freunden zu Gast ist, nimmt sie die Rolle der Strengen ein, die zu Respekt und Ordnung aufruft. „Ich bin immer die, die alles im Ruder hält, die wie selbstverständlich den Tisch abräumt oder sagt: Macht eure Betten, macht nichts kaputt.“  

Wenn in den Ferien oder in der Winterzeit kein Betrieb ist, ist das Schullandheim seltsam leer. „Ich sitze da, und das Haus ist tot“, sagt Andrea. Meistens lässt die Familie dann den Fernseher laufen und in anderen Zimmern das Radio. Die plötzliche Einsamkeit hat auch ihre Vorteile: Im Speisesaal werden große Familienessen aufgetischt, und wenn Jessica und ihre Freunde aus München oder Wolfratshausen am Wochenende mal in Endlhausen und Umgebung weggehen und danach keiner mehr heimfahren kann, werden schnell ein paar Betten für alle bezogen. Jessicas Lieblingszimmer ist in den besuchsfreien Zeiten das „Föhnzimmer“. So nennen die Calcagnos ein holzvertäfeltes Zimmer im ersten Stock, in dem sich nichts als eine riesige Spiegelwand und viele Steckdosen finden. Nach dem Duschen laufen die Mädchen die Holztreppe in den ersten Stock hinauf, stecken ihre Föhne ein und trocknen sich hier die Haare. „Aber wenn niemand da ist, habe ich das Zimmer für mich allein. Dann steht hier mein ganzes Kosmetikzeug“, sagt Jessica.  

Jessicas Freunde finden es cool, dass sie im Landheim lebt. Sie fragen manchmal: „Jessi, wann gibt es wieder eine Landheimparty?“ Dann kann man Billard und Tischtennis spielen, kickern und danach übernachten. Es spricht sich schnell in der Gegend herum, wenn eines der Schullandheimkinder einlädt. Einmal standen fast 200 Leute vor der Tür. Deshalb werden die Feiern immer seltener. So schlimm findet Jessica das nicht. Denn während der Partys bleibt sie sowieso immer in der Rolle der Aufpasserin. „Wenn sich da nur jemand auf die Kante vom Billardtisch setzt oder man sieht, dass da jemand sein Bier abgestellt hat, kriege ich kurzfristig einen Herzinfarkt.“  

Den Landheimbetrieb später übernehmen, wie es schon ihre Oma und ihre Mutter getan haben, will Jessica nicht. Sie möchte weg vom Land, in die Stadt, vielleicht ins Eventmanagement. Und ihre Mutter Andrea findet das gut. „Ich erwarte von meinen Kindern gar nichts. Ich sage ihnen immer: Lernt was Anständiges, damit ihr hier rauskommt. Man gewöhnt sich zu schnell daran und fährt sich dann fest.“  

Bald ist Abendessenszeit. Draußen ist der Himmel weiß, durch die offenen Türen weht eine lauwarme Abendbrise. Andrea und Jessica stehen nebeneinander im Türrahmen. Wenn es nicht so blöd klingen würde, könnte man sagen, dass die beiden eher wie gute Freundinnen wirken als wie Mutter und Tochter. Viel mehr bekommt man aber den Eindruck, dass es in dieser Familie gar nicht so sehr um Kategorien wie Mutter, Tochter oder Freundin geht. Es geht darum, stets aufmerksam und respektvoll miteinander umzugehen, ganz egal, wer das Gegenüber sein mag.  

Es rumpelt im Haus. Die Schüler kommen von der Wanderung zurück. Auf dem Küchentisch ist ein Abendbrotbuffet gedeckt, die ersten Kinder stehen vor der Tür vom Speisesaal in die Küche Schlange. Andrea greift zur Glocke, schüttelt sie einmal, und dann stürmen die Kinder hinein.

Text: mercedes-lauenstein - Foto: juri-gottschall

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