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Kannst du dich nicht einmal anstrengen?

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"Es geschah im 13. Schuljahr an meinem Gymnasium südlich von München. Kurz vor Ostern haben wir die allerletzte Mathematikklausur geschrieben, und die war nicht ganz unwichtig. Ich brauchte genau einen Punkt, um zum Abitur zugelassen zu werden. In allen anderen Fächern war ich ganz gut, nur in Mathe hatte ich immer ein Problem. Aber diesen einen Punkt, dachte ich, den werde ich schon schaffen. Besonders viel Bock, mich anzustrengen, hatte ich allerdings nicht. Ich war gerade frisch verliebt und hatte vieles im Kopf, nur nicht Mathe. Aber ich war guten Mutes. Das wird schon reichen, dachte ich, als wir sie geschrieben hatten. Dann gab der Lehrer die Klausur zurück. Null Punkte.

Nach der Stunde bin ich zum Lehrer gegangen und habe ihn gefragt, ob er nicht noch irgendetwas machen könne. Im Laufe des Gesprächs habe ich ihn regelrecht angefleht. Er stellte mir, wenn auch sehr vorsichtig, in Aussicht, mich nach den Osterferien noch einmal abzufragen und damit das Klausurergebnis doch noch irgendwie zu ändern. Ich griff nach dem Strohhalm, ohne nachzufragen. Während die anderen in den Osterferien aufs Abitur lernten, habe ich mich auf Mathe konzentriert. Dann, nach den Ferien, kam die allerletzte Mathe­schulstunde des Jahres und, so war es eigentlich gedacht, meines Lebens. Ich saß in meiner Bank, sah immer wieder auf die Uhr. Würde er mich drannehmen? Die Zeit lief, jeder in meiner Klasse drehte sich nach mir um, alle wussten, worum es ging. Aber es geschah nichts. Schließlich sagte ein Klassenkamerad offen zum Lehrer: „Mein Gott, jetzt nehmen Sie Inga halt dran.“ Aber die Stunde ging vorbei. Ohne Abfrage. Hatte er seine Ankündigung nie ernst gemeint? Konnte er mir nicht sagen, dass er mich gar nicht abfragen darf?

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Im Hintergrund braute sich nun einiges zusammen. Mein Vater, das muss man so sagen, zettelte einen Kreuzzug gegen die Schule an. Er ist sogar mit meiner Klausur zum Mathelehrer nach Hause gefahren, hat mit ihm gesprochen, in der Hoffnung, noch einen Punkt zu finden. Er hat sich wahnsinnig ins Zeug gelegt, weil es für ihn der schlimmste Gedanke war, dass ich wirklich durchfallen könnte. Meine Gefühle zu jener Zeit waren gemischt. Ich kann es nur schwer erklären, aber: Ich fand das zunächst alles gar nicht so schwierig. Ich war 19, ich hatte meine erste große Liebe gefunden. Deshalb war es mir zu jener Zeit immer ein bisschen unangenehm, dass mein Vater sich so einsetzte. Zu Hause kam es immer häufiger zum Streit zwischen mir und meinen Eltern. Es gab Vorwürfe: Hättest du dich nicht einmal anstrengen können? Nur dieser eine Punkt! Wir wohnten in einem kleinen Kaff, jeder erfuhr davon, und mir wurde bewusst, wie entsetzlich es offenbar viele finden, wenn man durchfällt oder das Abitur nicht schafft. (Dabei war ich keine schlechte Schülerin. In der Facharbeit hatte ich 15 Punkte – als eine von zwei Schülern aus dem Jahrgang.)

Noch heute weiß ich nicht genau, warum er mich nicht drangenommen hat. Er hätte es, soweit ich weiß, aus Kulanz tun können. Vielleicht wollte er an mir aber auch ein Exempel statuieren. Es gibt immer eine Grenze, und immer gibt es jemanden, der es ganz knapp nicht über die Grenze schafft. Aber gerade wenn so wenig zum Überschreiten fehlt, macht einem eine Grenze ganz besonders zu schaffen. War ich meinem Lehrer irgendwann blöd gekommen? Wollte er an mir seine pädagogischen Prinzipien testen? Die Antwort kenne ich nicht, womöglich hat sie gar nichts mit ihm zu tun. Ich weiß, dass meinetwegen in den Osterferien eine Lehrerkonferenz anberaumt wurde, in der der Fall besprochen wurde. Vielleicht hat die Konferenz die Grenze gezogen und beschlossen, mich nicht mehr abzufragen.

Ich war verwirrt. Einmal war ich am Boden zerstört, und ein andermal habe ich versucht, die Situation anzunehmen. Ich bin zum Abiball gegangen, nur um irgendwie da zu sein für meine Freunde, um ihren Erfolg mitzufeiern. Viele Eltern sind zu mir hergekommen und sagten: Sorry! Du hast es nicht verdient. Dann habe ich mich ganz fürchterlich betrunken.
Im Sommer danach habe ich wie wild gearbeitet und Geld verdient. Noch vor Beginn des neuen Schuljahres bin ich zu meiner Oma gezogen – das Sitzenbleiben stellte sich doch als eine größere Zäsur für mich und meine Familie heraus. Die Anspannung in unserem Haus ist einfach nicht verschwunden; der stille Vorwurf, dass ich es nicht gepackt habe; immer wieder der Gedanke, wie saublöd es ist, es wegen eines Punktes nicht geschafft zu haben. Vielleicht war es aber auch eine Zeit der Abnabelung von den Eltern, wer weiß.
Für das neue letzte Schuljahr habe ich dann vom gemischten staat­lichen Gymnasium auf ein privates Mädchengymnasium gewechselt. Dort war es wie im Zuckerwatteland. Die Lehrer haben sich wahn­sinnig um uns Mädels gekümmert, an die Mathematik sind wir mit einem ganz anderen Ansatz rangegangen. Jeder wurde einzeln gefördert. Ich habe mich in Mathe und auch in allen anderen Fächern verbessert. (Was natürlich leicht war, ich kannte ja schon alles.) Mein Abitur habe ich mit 2,1 gemacht, danach bin ich nach Berlin gezogen und habe angefangen, Soziologie zu studieren. Es musste Berlin sein, weil ich die Schulzeit und Südbayern ganz weit hinter mir lassen wollte. Das Durchfallen an sich hatte ich nach meinem Abitur einigermaßen verarbeitet, aber nicht diese Wut in mir. Die hat mich noch mindestens fünf Jahre verfolgt, vielleicht verfolgt sie mich sogar bis heute. Es ist eine Wut auf mich selbst, auf meine Eigenschaften. Noch heute erledige ich viele Sachen erst auf den letzten Drücker oder mache manchmal nur das gerade Nötige. Ich bin mir deswegen selbst böse und mache mir kon­stant Selbstvorwürfe: Warum kriegst du das nicht hin? Hast du nicht aus dem Abitur gelernt?

Es gibt aber auch die anderen Gedanken: Manchmal schaue ich mir die Leute an, die ich in Berlin kennenlernen durfte. Die Liebe, die ich hier gefunden habe. Ich hätte all diese Menschen nicht kennengelernt, wenn ich ein Jahr früher hier gewesen wäre. Ich bin hier, abgesehen von meinen Selbstvorwürfen, ein glücklicher und ausgeglichener Mensch geworden. (Und auch mit meiner Familie ist wieder alles in Ordnung.) Manchmal denke ich, dass meine Zurückstufung in der Schule mit dieser Zufriedenheit zu tun hat. Andererseits: Wären die Dinge nach dem Abitur schiefgelaufen, hätte ich den Grund vielleicht auch im Sitzenbleiben gesucht. Das Nachdenken über die Grenze, die ich damals nicht überschritten habe, ist also nie aus meinem Leben verschwunden. Im Gegenteil, heute muss ich im Beruf selbst solche Grenzen ziehen. Ich bin Sozialwissenschaftlerin und forsche zur Integration von Migranten in Deutschland. In meiner Arbeit geht es häufig um Rankings. Es geht um die Frage, ab welcher Grenze jemand gut integriert ist und wann nicht – eine Frage der wissenschaftlichen Methodik. Mir fällt es wahnsinnig schwer, diese Grenzen zu ziehen. Aber es geht nicht anders, ich kann sonst nicht arbeiten. Es ist, immer noch, ein komisches Gefühl."

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Text: peter-wagner - Illustration: Joanna Swistowski

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