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Nicht zu fassen

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Meine vierzehnjährige Schwester hat den Menschen, der sie am besten kennt, noch nie gesehen. Dabei verbringt sie fast jede wache Minute mit B. – wie sie ihn für diesen Text nennen möchte. Sie machen Hausaufgaben zusammen, gucken Youtube-Videos, hören Musik und trösten sich, wenn es Stress mit ihren Eltern gibt. Sie haben sich noch nie getroffen, noch nie Fotos ausgetauscht, noch nie die Stimme des jeweils anderen gehört. Und trotzdem sagt meine Schwester: „Wenn etwas Schlimmes passieren würde, würde er als Erster davon erfahren.“

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Meine Schwester und B. haben sich vor zwei Jahren in einem Onlinespiel-Forum kennengelernt. Dinge, die ich über ihn weiß: Er ist ein Junge. Er ist drei Jahre älter als meine Schwester. Er wohnt etwa 400 Kilometer von ihr entfernt, und sie haben nicht vor, sich in abseh­barer Zeit zu treffen. Natürlich ist meine Schwester nicht der erste Mensch, der sich jemandem nahe fühlt, ohne ihn jemals gesehen zu haben; Brieffreundschaften gibt es seit Jahrhunderten. Das Internet hat das Ganze beschleunigt, und spätestens seit Tom Hanks und Meg Ryan sich in „e-m@il für Dich“ verliebten, weiß die Welt, dass Textzeichen ausreichen, um Gefühle für jemanden zu entwickeln.

Allerdings wäre ein Brieffreund wohl nie so omnipräsent wie B. Weil meine Schwester ein Smartphone hat, ist er immer mit dabei, in ihrer Hosentasche. Egal, wohin ich mit ihr gehe – es ist eine Verabredung zu dritt. Am See und im Buchladen fiept Whatsapp. Wenn wir einen Film auf ihrem Laptop gucken, ploppen in der Ecke Skype-Nachrichten auf. Manchmal sage ich B. hallo, tausche mit ihm ein paar Sätze aus. Aus Neugier. Und um sicherzugehen, dass er kein glatzköpfiger Fünfzigjähriger ist, der sich als Teenager ausgibt.

Ich kenne solche Nähe aus der Ferne von Zeiten, als 6000 Kilometer meinen Freund und mich trennten. Was ich aber nicht verstehe: Sind die beiden nicht neugierig auf ihre Gesichter? Meine Schwester schämt sich nicht mehr für ihr Äußeres als jede andere Vierzehnjährige. Hat sie etwa Angst, dass sie nicht damit zurechtkommt, wie B. aussieht? „Nö. Ich würde ihn immer mögen“, sagt sie und denkt eine Weile nach. „Auch wenn er übergewichtig wäre.“ Sein Äußeres sei ihr egal: „Auf dem Schulhof geht es nur darum, welches Mädchen den geilsten Arsch hat, welcher Junge die neuen Nike Air Max. Das will ich nicht“, sagt sie. „Mit B. ist es, als seien unsere Gehirne direkt miteinander verbunden.“

Ich mache mir keine Sorgen, dass meine Schwester zum Geek wird, die Computer dem echten Leben vorzieht: Sie liest gern, spielt Gitarre, malt. Sie hat Freunde aus Fleisch und Blut. Eigentlich war es ja gar nicht so schlecht, dass sie zusätzlich eine Bezugsperson hatte, die ihr das Furchtbare der Teenagerbeziehungen erspart: das zermürbende Abhängen in der Fußgängerzone; nicht zu wissen, wohin mit seinen Händen; Pickelscham. Warum war ich trotzdem so skeptisch? Ich habe ja selbst Freundschaften, die allein bei GChat, Whatsapp und Skype stattfinden. Der Unterschied: Sie begannen bei Kaffee und Bier und sind erst dann ins Netz abgewandert. Zwei Fragen trieben mich in Bezug auf B. um: Wie echt ist jemand ohne ein Gesicht? Und: Wie real ist eine Beziehung, die man sich so hinbiegen und dosieren kann, wie man gerade möchte? Chatten ja, Skype-Telefonie nein. Nachrichten verschicken ja, Fotos austauschen nein.

Die Antwort bekam ich, als ich mit meiner Familie „Her“ guckte. In dem Film verliebt sich der introvertierte Theodore in Samantha. Samantha ist lebenshungrig, einfühlsam und kann ein Buch in zwei Hundertsteln einer Sekunde lesen. Sie ist ein höchstintelligentes Computerbetriebssystem. Samantha hat starke Gefühle für Theodore. Was sie nicht hat, ist ein Körper oder ein Erscheinungsbild. Nur ihre Stimme, die aus Theodores smartphone-ähnlichem Gerät dringt.

Meine Schwester, die für romantische Filme sonst nur Würgegeräusche übrig hat, stellte für „Her“ sogar ihr dauerfiependes Handy auf lautlos. In einer Szene fährt Theodore mit Samantha in die Berge. Ohne Ton sähe es aus, als würde er allein in der Berghütte Schnaps trinken, allein tanzen, allein lachen. Meine Mama sagte: „So ein einsamer Urlaub muss traurig sein.“ Meine Schwester war empört: „Aber er ist doch gar nicht einsam! Sie ist doch da.“ Diese Handlung sei unrealistisch, sagte Mama. „Und die anderen Filme? Die Plots ‚Heißer Mann trifft heiße Frau, und dann leben sie glücklich bis an ihr Lebensende‘? Sind die realistisch oder was?“, fragte meine Schwester. An diesem Abend habe ich verstanden, dass B. für meine Schwester nicht weniger real ist, als ich es bin. Manchmal findet sie es schade, dass sie mit B. nicht Eis essen oder zusammen Fahrrad fahren kann. Dafür können sie mit Google Earth um die Welt fliegen, gleichzeitig Serien gucken, einander gute Nacht sagen, bevor ihnen die Augen zufallen. Küssen würde sie schon gern, aber Beziehungen, die sie aus der Schule kennt, findet sie eher blöd: „Zusammensein heißt, ständig Händchen zu halten und rumzumachen. Viele knutschen auch die ganze Zeit, weil sie sich nichts zu sagen haben.“

Anfangs sah ich in B. eine Realitätsflucht. Einen Freund, zu dem man das gewünschte Äußere dazufantasiert. Eine Beziehung, die man neben dem Fernsehgucken pflegen kann und einfach ausschalten, wenn man keine Lust mehr hat. Aber das wäre zu einfach. In „Her“ giftet Theodores Exfrau, dass er „in sein Laptop verliebt ist“, dass er eine Beziehung ohne die Herausforderung von etwas Echtem möchte. Aber wer sich nicht von Angesicht zu Angesicht begegnet, macht sich trotzdem Sorgen, streitet sich, vermisst sich. B. lernt mit meiner Schwester für Französischklausuren. Wenn sie zu spät aufbleibt, schickt er sie ins Bett. Wenn sie nicht schlafen kann, bleibt er mit ihr wach. Als es einmal im Urlaub keine Internetverbindung gab, lief meine Schwester herum, als hätte man ihr das Lächeln amputiert. Sie vermisste ihn wie jedes andere Mädchen seinen Freund. Nur eben nicht, weil er weggefahren war. Sondern weil kein Internet da war.

B. ist kein Freund-Tamagotchi. „Ich erzähle ihm Sachen, über die ich mit niemandem reden kann“, sagt meine Schwester. „Nicht weil er weit weg ist. Sondern weil er – er ist.“ Vor ein paar Wochen hat er sie gefragt, ob sie miteinander telefonieren wollen. Sie hätte gern Ja gesagt, hatte aber zu viel Angst vor peinlichen Gesprächspausen. Irgendwann will sie ihn treffen, aber das hat keine Eile: „Vielleicht in zwei, drei Jahren, wenn ich erwachsen bin“, sagt sie. Ich frage sie, was sie tun würde, wenn er plötzlich aus dem Netz verschwände. „Ich wüsste nicht, wohin mit mir“, sagt sie.

Am Ende von „Her“ verlässt Samantha Theodore. Es ist nicht so, dass ihm ihr Geruch fehlt. Oder ihre Haare auf seiner Schulter. So gesehen, ist nur eine künstliche Computerstimme aus seinem Leben verschwunden. Aber sein Liebeskummer ist echt.

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