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Nix machen macht auch nix

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Meine Freunde aus der Schule hatten ihre Praktika fürs fünfte Semester schon geplant, da lernten sie noch für die Abiturprüfung. Ich aber wurde fast 21 Jahre alt, ohne eine Idee von meiner Zukunft zu haben. Meine Eltern flehten mich an, ich solle mich doch endlich für irgendein Studium entscheiden – für irgendeines! Ich wollte auch gern studieren, nur wusste ich nicht, was. Mich interessierte alles, irgendwie. Archäologie klang spannend, und ich konnte mir auch vorstellen, in einer Orang-Utan-Station auf Borneo zu arbeiten. Germanistik? Ja klar, ich las gern Bücher. Aber fünf Jahre lang Texte von Marcel Proust analysieren? BWL! Viel Geld verdienen, cool! Aber mindestens acht Semester mit Trägern von rosa Ralph-Lauren-Hemden in einem Raum sitzen? Einmal sah ich mich, ernst dreinschauend, mit einer Pfeife im Mundwinkel auf einem Ledersessel sitzen, neben mir eine attraktive Frau mittleren Alters auf einer Couch, die mir von ihrem Traum der vergangenen Nacht erzählte. Ich wollte plötzlich Psychoanalytiker werden, und es war ein gutes Gefühl. Die Entscheidung war, als sei ich monatelang durch eine karge Wüste geirrt und plötzlich auf Wasser gestoßen; es war, als hätte ich meinen Platz in der Welt gefunden. Leider ging dieses Wissen nach etwa zwei Wochen wieder verloren. Ich glaube, es hatte etwas mit einem Psychologiestudenten zu tun, der mir von grauenhaften, aber obligatorischen Statistikkursen erzählte. Ich lernte: Wen alles interessiert, den interessiert eben auch nichts richtig. Wie sollte ich eine Entscheidung treffen, die mein ganzes Leben bestimmt, wenn ich von nichts hundertprozentig überzeugt war?

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Nach dem Ende meines Zivildienstes ging ich ein Jahr auf Weltreise. „Super“, sagten meine Eltern. „Da hast du genug Zeit, dich zu orientieren. Wenn du zurückkommst, wirst du wissen, was du willst.“ Leider fand ich nach dieser Reise noch viel mehr Sachen interessant. Ich schrieb mich für Geschichte ein, weil ich schon als Kind gern Geschichtsbücher gelesen hatte. In der ersten Stunde meines ersten Proseminars ging es um die Reichsreform von Kaiser Diokletian. Das war mir irgendwie zu speziell. Also
studierte ich Portugiesisch, weil ich eine Zeit lang dem etwas abstrusen Traum nachhing, Weinbauer in Portugal werden zu wollen. Zwei Monate später fand ich Kunstgeschichte wirklich gut. Ich besuchte sogar eine Vorlesung. Die war aber derart überfüllt, dass ich es für unzumutbar hielt, mich diesen klaustrophobischen Zuständen für längere Zeit auszusetzen. Schließlich wollte ich gar nichts mehr werden. Ich kellnerte in einer Bar, ich verdiente genug Geld, ich lernte viele Mädchen kennen, und meine studierenden Freunde besuchten mich Abend für Abend. Meine Eltern gaben endlich Ruhe und fanden sich damit ab, dass ihr Sohn sein Glück als Kellner fand. Mir fehlte es an nichts. Ich war glücklich.
Ausgerechnet in jener Zeit entschied ich mich endlich für ein Studium, dessen Berufsaussichten ziemlich mies sind.

Zur Philosophie gibt es kaum direkte Wege, die meisten Studenten verschlägt es irgendwie dorthin. Mir zeigte ein Kellnerkollege den Weg. Er schwärmte mir immer wieder von Metaphysik und Wittgenstein vor. Ich wurde neugierig und war fast 23 Jahre alt, als ich endlich zu einem „richtigen“ Studenten wurde – heute, nach der Studienreform, sind viele in diesem Alter schon fertig mit der Uni. Vier Jahre später schloss ich ab, dann bewarb ich mich bei der Journalistenschule und fing mit 28 Jahren an, in diesem Beruf zu arbeiten.
Wäre ich heute erfolgreicher, wenn ich früher gewusst hätte, wohin ich
will? Mussten diese Umwege sein? War die Zeit, in der ich nicht wusste, was ich will, verschenkt? Manchmal stelle ich mir solche Fragen. Ich bewundere Menschen, die mit 20 genau wissen, dass sie Schreiner oder Anwalt werden wollen. Selbst wenn sie fünf Jahre später herausfinden, dass sie lieber in einer Orang-Utan-Station arbeiten möchten, sind sie noch immer jung genug für einen Wechsel. Doch Bereuen ist müßig. Ich wusste mit Anfang 20 einfach nicht, was ich will. Dagegen gibt es kein Rezept. Manche wissen es mit Anfang 30 immer noch nicht. Schlimm ist das nicht, finde ich. Schlimm ist nur, etwas zu tun, von dem man weiß, dass man es nicht will.

Dieser Text ist im Magazin jetzt - Schule&Job der "Süddeutschen Zeitung" erschienen. Eine Übersicht der Texte aus dem Heft findest du im Label Schule_und_Job.

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