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Eintrag aus dem Klassenbuch. Heute: Zettelchen und Bimmel-Bingo

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Letzten Freitag, in der Relistunde, musste ich zum ersten Mal seit einer Ewigkeit wieder ein Zettelchen weitergeben. Ein winziges, klein beschriebenes Stück Papier, zwei Mal gefaltet, von Felix an Michael. Natürlich habe ich nicht nachgeschaut, was draufstand. Ich erinnerte mich vielmehr an unser Zettelchen-Hoch, irgendwann zwischen sechster und zehnter Klasse, als wir die anfängliche Scheu und Artigkeit eines Fünftklässlers abgelegt hatten und uns langsam, aber sicher zu wahren Rebellen entwickelten. In dieser Zeit flogen die Zettel nur so, zu Kugeln geballt, von einem Tisch zum Nächsten. Wochenendorganisationen und Hausaufgaben in Stichworten, Unsinnigkeiten oder Lästereien über den Lehrer. Mit denen musste man immer ganz besonders vorsichtig sein, denn die Gefahr, dass Briefe abgefangen wurden, war meist ziemlich hoch. Einmal passiert, schoss einem die Schamesröte ins Gesicht. Denn, mal ehrlich: Kaum ein Lehrer kann es sich verkneifen, einen solchen Brief zu lesen. Trotzdem gehen sie alle unterschiedlich um mit abgefangenen Botschaften. Die Einen lesen sie laut vor, die Anderen schmunzeln und vernichten sie, wieder Andere bewahren sie gar auf und erzählen voll Stolz von ihrer zig Schuhkartons umfassenden Sammlung.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Der typischste aller Zettel soll der berühmte „Willst du mit mir gehen“-Ankreuzzettel sein, aber so einen habe ich noch nie gesehen. Meiner Meinung nach sind der Höhepunkt die Abstimmungen. Jungs zum Beispiel neigen in der achten, neunten Klasse dazu, immer wieder Mädchenrankings zu machen. Sie vergeben Punkte für Haare, Stimme, Humor – am liebsten während des Unterrichts. Anschließend wird die Liste ganz unabsichtlich irgendwo liegen gelassen und der Streit unter den Mädchen oder umgekehrt ihre Verbündung gegen die Jungs sind vorprogrammiert. Heutzutage werden hingegen kaum noch Zettel geschrieben. Wir geben höchstens Abstimmungslisten wegen der Farbe unserer Stufenfahrt-T-Shirts herum (und diese werden ausnahmsweise von den Mädchen dominiert). Ich frage mich, was mit den ganzen Inhalten passiert, die wir früher zu Papier gebracht und durch die Bänke geschummelt hätten. Wann erzählen wir uns die jetzt? Etwa nur noch in den Pausen? Reden wir vielleicht während des Unterrichts mehr als früher? Oder haben wir uns tatsächlich weniger zu erzählen? Wahrscheinlich trifft Letzteres zu. Schule wird auf die Dauer langweilig, und der Nervenkitzel des Zettelchenschreibens weicht einer tiefen Gelassenheit. Schule wird unspektakulärer. Irgendwann sind alle Beziehungen klar und keiner will mehr per Briefchen wissen, ob die anderen auch finden, dass Alex und Carolin gut zueinander passen. Ab und zu jedoch kommt noch einer von diesen Briefen, die eine einzelne Unterrichtsstunde herrlich spektakulär machen. Darauf steht nur eins: „BIMMEL-BINGO!“ Bimmel-Bingo ist ein wunderbares Spiel. Wunderbar in dem Moment, in dem man zutiefst gelangweilt in Chemie oder Religion sitzt und nicht weiß, wohin mit seinen Händen, wohin mit den Gedanken. Dann malen sich alle, die der Zettel erricht hat, ein Bingo-Feld mit fünf mal fünf Kästchen auf, in die sie Worte schreiben, die der jeweilige Lehrer besonders oft verwendet. Nur Adjektive und Nomen, maximal drei Namen. Die Mutigen notieren ganze Floskeln. Anschließend wird dem Lehrer sehr angestrengt zugehört (das ist der positive Nebeneffekt) und sobald er einen der Begriffe verwendet, die man in seinem Bimmel-Bingo-Schema aufgeschrieben hat, darf man diesen durchstreichen. Wer zuerst fünf Kreuze in einer Reihe hat und laut „BIMMEL-BINGO!“ ruft, gewinnt den zuvor ausgeschriebenen Preis. Das kann eine Schokowaffel aus dem Kakaokeller sein, eine Füllerpatrone, ein Kreisel aus Tobis Überraschungsei. Andi besitzt all diese Dinge. Er ist der Einzige, der sich in Herrn Wettke-Lünnings Chemieunterricht traut, lauthals merkwürdige Wörter zu schreien und sich danach ganz gelassen wieder zu setzen und den Huldigungen (und Flüchen) seiner Mitschüler zu lauschen. Das ist eigentlich noch dreister, als Zettelchen zu werfen. Illustration: katharina-bitzl

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