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Worüber wir nicht sprechen

Illustration: Katharina Bitzl

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Unsere Gesellschaft gilt als übersexualisiert. Trotzdem ist die weibliche Sexualität immer noch nicht so selbstverständlich wie die männliche. Drei junge Frauen erzählen von Problemen, die man als Frau oft verschweigt. Sie alle wollen in diesem Text nicht mit ihrem echten Namen genannt werden, die vollen Namen sind der Redaktion aber bekannt.

Triggerwarnung: Im Protokoll von Helen (23) wird sexuelle Gewalt beschrieben.

Johanna (21) hat noch nie masturbiert 

Ich wusste schon früh, dass Männer sich selbst befriedigen. Dass auch Frauen das machen, wurde mir erst mit 20 Jahren im Studium bewusst. Als ich das zum ersten Mal gehört habe, war ich geschockt und musste das erst mit meiner Gedankenwelt vereinbaren. Ein Jahr später glaube ich meinen Freundinnen eigentlich, dass das normal ist. Aber irgendwie bekomme ich das Bild nicht so ganz aus dem Kopf, dass Masturbation nicht zu Weiblichkeit passt. Mich müsste man jedenfalls schon dazu zwingen, dass ich das bei mir selbst ausprobiere.

Ich finde schon den Gedanken an so eine Intimität mit mir selbst hochgradig peinlich. Ich habe mir deshalb auch noch nie Pornos angeschaut oder irgendwelche anderen Dinge, die mir Lust auf Sex machen könnten. Wenn ich in einem Buch an eine Stelle komme, in der es um Sex geht, denke ich mir meistens: „Aha, so was machen andere Menschen anscheinend“, und im nächsten Moment dann „Das würde ich nie tun!“. Wenn ich daran denke, dass ich mir Pornos ansehen würde, um mich selbst zu befriedigen, schäme ich mich wahnsinnig vor mir selbst. Ich glaube, ich könnte dann auch niemandem mehr so richtig begegnen, weil ich absurderweise Angst hätte, dass die wissen, was ich gemacht habe.

Manchmal habe ich Sexträume. Wenn ich mich dabei erwische, schäme ich mich für mein Unterbewusstsein und versuche dann ganz schnell an etwas Anderes zu denken. Ich kann meinen Trieb also auch ganz gut unterdrücken.

Ich denke, dass mein Umfeld mich dahingehend sehr geprägt hat. Mit meinen Freunden aus der Heimat habe ich nie großartig über die weibliche Sexualität gesprochen. Nur mit einer Freundin habe ich darüber geredet – aber wir waren uns einig, dass Blümchensex völlig ausreicht und wir da keine weiteren Experimente brauchen.

Und wahrscheinlich haben mir auch meine Eltern unwissentlich das Bild vermittelt, dass es keine gute Sache ist, seine Sexualität vollkommen frei und ungeniert auszuleben. Für sie wäre es – glaube ich – sehr schlimm, wenn ich mich selbst befriedigen würde. Solange ich mich erinnern kann, hat mein Vater genervt reagiert, wenn Sexualität im Fernsehen Platz gefunden hat. Meistens sagt er dann so etwas wie „Oh, muss das denn jetzt schon wieder sein“ und schaltet auf ein anderes Programm. Meine Mutter weiß zwar, dass ich mit meinem Exfreund Sex hatte, aber mit ihr könnte ich auch niemals ausführlich über so was reden.

Manchmal glaube ich, dass die Selbstbefriedigung von Frauen für mich in Ordnung wäre, wenn das schon früher artikuliert worden wäre. Aber in der Schule hieß es ja auch immer nur, dass Jungs sich nicht schämen müssen, wenn sie masturbieren. Bei denen finde ich das auch gar nicht merkwürdig. Wenn ich ein Mann wäre, würde ich bestimmt masturbieren. Für die ist das ja sowieso natürlich und selbstverständlich – und eben überhaupt nicht peinlich.

Ida (22) hatte noch nie einen Orgasmus 

Ich mag Sex und habe oft ein starkes Verlangen. Leider weiß ich aber nicht, wie ich es stillen kann. Denn obwohl ich schon lange und viel Sex habe – auch mit unterschiedlichen Partnern und manchmal mit mir selbst – hatte ich noch nie einen Orgasmus.

Am Anfang war ich erst 16 und habe mir noch keine Sorgen gemacht. Ich dachte, das käme noch mit der Erfahrung, dass es vielleicht auch an meinem Partner läge. Nachdem ich dann aber nach drei Jahren Beziehung noch mit zwei anderen Männern geschlafen hatte, regten sich da schon erste Zweifel, als die danach immer wissen wollten, warum ich nicht gekommen wäre. War das so unnormal, bei den paar Mal Sex nicht zu kommen?

Ich konnte es wirklich nicht sagen. Meine Eltern hatte mit mir nie richtig über Sex gesprochen. „Pfui Teufel“ war der Ausdruck für diesen Schweinkram – und im Sexualkundeunterricht habe ich nicht aufgepasst. Das war mir damals alles noch zu peinlich.

Als ich 19 war, kam ich schließlich mit meinem – später langjährigen – Freund zusammen. Ich habe ihm dann relativ bald nach unserem ersten Mal davon erzählt, dass ich noch nie einen Orgasmus erlebt habe. Ich bin da sehr ehrlich und sage das, sobald sich mein Partner wundern könnte. Er soll ja nicht glauben, dass mein fehlender Orgasmus an ihm läge. Außerdem wollte ich ihm weder etwas vorspielen, noch erst nach Monaten auflösen müssen, was ich ihm zuvor verschwiegen hätte.

Zunächst hat ihn das angespornt: „Das wird sich mit mir schon ändern“, war der Spruch, den ich später gut kennenlernen sollte. Eigentlich wurde es schlimmer. Denn im Grunde stimmte ja alles – der Sex war gut, die Beziehung liebevoll und er gab sich wirklich Mühe. Nach einem Jahr kam ich dann auch zwei, drei Mal an einen Punkt, wo ich dachte: „Ja, jetzt passiert gleich was, jetzt geht es los...“ Aber dann war ich so verkopft, weil ich unbedingt wollte, dass es klappt. Ich hab erst die ganze Zeit gedacht „Fallen lassen! Fallen lassen!“ und dann stattdessen einfach dicht gemacht – das gute Gefühl hat sich in Frustration aufgelöst. Seitdem habe ich jedes Mal nach dem Sex geweint.

Dass das der Beziehung nicht gut getan hat, kann man sich wahrscheinlich vorstellen. Mein Freund war total lustlos, ich konnte ihn – wenn es hochkam – zu ein- oder zweimal Sex die Woche überreden. Obwohl er meinte, er fände mich immer noch genauso attraktiv und hätte sehr wohl Lust, wusste ich, dass ich ihn in seiner Männlichkeit verletzt hatte. Er konnte mir einfach nicht glauben, dass der Sex mir trotzdem Spaß machte. Aber wie sollte er auch, wenn die Freundin erst nicht kommt und danach ins Kopfkissen heult?

Er fragte sich, ob er nicht gut genug sei, ich fragte mich, ob ich nicht gut genug sei – wir haben uns so einen enormen Leistungsdruck aufgeladen. So war das Sexleben am Ende natürlich gar nicht mehr entspannt.

Vielleicht hat mich das die Beziehung gekostet. Ich denke, es hat auf jeden Fall etwas damit zu tun. Heute habe ich eine legere Halb-Affäre – Halb Beziehung und der Sex ist auf jeden Fall besser, weil bedeutungsloser geworden. Kommen kann ich trotzdem nicht und der Typ macht sich auch schon Gedanken.

Die längste Zeit war mir die Angelegenheit super peinlich – ich habe niemandem davon erzählt. Inzwischen stehe ich aber dazu, nachdem ich im Internet gelesen habe, dass es vielen Frauen geht wie mir. Wenn ich also mit fünf Freundinnen in einer Runde sitze und es wieder um solche Themen geht, sage ich ganz frei heraus, dass ich noch nie einen Orgasmus hatte. Die Reaktion ist immer die gleiche: Vier gucken schockiert, eine sagt: „Was echt? Du auch?“

Helen (23) hat nach vielen Grenzüberschreitungen und einer Vergewaltigung Schwierigkeiten, selbstbestimmt ihre Sexualität zu leben 

Die meisten Menschen bezeichnen mich als „starke Frau“. Trotzdem dachte ich über Jahre, ich müsste mich nach der Sexualität der Männer richten.

 

Ich komme aus einem patriarchalischen Elternhaus. Meine Mutter ist Hausfrau, mein Vater bringt das Geld nach Hause und stellt mir das dreckige Geschirr vor die Nase mit den Worten: „Wenn du keine Frau wärst, müsstest du das jetzt nicht abräumen.“ Als ich 15 war hatte ich einen Freund, von dem ich dachte, dass er ein richtiger Kerl sei. Er war viel älter als ich und ließ mich nicht mehr mit Freundinnen ausgehen, den Kontakt zu anderen Jungs musste ich abbrechen. Er selbst kam und ging wann und mit wem er wollte. Ich glaubte, das wäre der Lauf des Lebens. Ich glaubte es wirklich.

 

Er brachte mir bei, dass man sich für den Sex gründlich waschen, dass jede Stelle des Körpers frisch rasiert sein muss. Ich rasierte mich zweimal täglich, denn die Rasur vom Morgen war ihm abends nicht mehr frisch genug. Meine Haut war rot und spröde, sie brannte und juckte ständig – aber ich war ja sicher, dass das zum Frausein dazugehört und nahm es in Kauf. Er bestellte mir Kostüme und Sexspielzeug und ließ mich die verrücktesten Dinge anstellen. Ich fühlte mich nicht wohl bei all dem, denn ich sammelte ja gerade meine ersten sexuellen Erfahrungen – und die machten mir so überhaupt keinen Spaß. Er erklärte, dass er das aber bräuchte und ich fühlte mich in der Pflicht, ihm seine Wünsche zu erfüllen.

 

Nach etwa einem Jahr in der Horror-Beziehung hatte ich starke Blutungen und Schmerzen im Unterleib. Er warf mir vor, ich würde all das nur erfinden, damit ich ihn mit dem Sex-Entzug für seine Seitensprünge bestrafen könne. Ich ging zu meiner Frauenärztin und sie erklärte mir: Meine Eierstöcke und Gebärmutter waren von unzähligen Zysten besiedelt. Immer, wenn eine von ihnen platzte, hatte ich diese höllischen Schmerzen. Selbst als ich die Pille deswegen wechselte, glaubte mir mein Freund nicht.

 

Ich sage niemandem, dass es eigentlich meine erste und einzige Vergewaltigung war

 

Nach drei Jahren entkam ich der Situation, denn ich zog für mein Studium in eine andere Stadt. Erst da begann ich zu verstehen, dass die Beziehung, in der ich meine Pubertät durchlebt und die mich so sehr geprägt hatte, nicht in Ordnung war. Dass ich mich nicht hätte unterordnen müssen. Und mir erschien es dann auch absurd, dass ich mich so hatte herumkommandieren lassen.

 

Trotzdem sind Muster hängen geblieben, die mich in den nächsten Jahren immer wieder in ein tiefes Loch gestürzt haben. Es fiel mir nicht mehr so schwer, „Nein“ zu Männern zu sagen, die sexuell an mir interessiert waren. Aber mein „Nein“ dann auch gegen sie durchzusetzen, war noch länger ein großes Problem. Es gibt mehr als ein Erlebnis, von dem ich deshalb sagen könnte, dass ich meine eigene Sexualität der der Männer unterworfen habe.

 

Das schlimmste war wahrscheinlich eines, das ich heute meinen ersten und einzigen One-Night-Stand nenne. Ich sage niemandem, dass es eigentlich meine erste und einzige Vergewaltigung war. Ich weiß nicht einmal, ob sich der Typ darüber im Klaren ist, dass ich den Geschlechtsverkehr mit ihm als eine solche empfinde. 

Ich wollte damals alleine nach Hause gehen, einfach ins Bett, denn ich hatte zu viel getrunken. Als ich aber um die Ecke bog, stand er plötzlich da und wartete auf mich –der Typ, den ich zuvor auf der Party geküsst, dann aber verabschiedet hatte. Ich wusste, dass er am anderen Ende der Stadt wohnte und meinte, dass ich jetzt gerne alleine nach Hause gehen würde. Er wollte mich dort hinbringen. Ich sagte, dass ich ihn dann aber nicht mit hoch nehmen wolle. Er meinte, das wäre okay.

 

Als ich den Schlüssel aber im Schloss umgedreht hatte und mich noch einmal verabschieden wollte, schob er sich an mir vorbei in den Hauseingang und murmelte etwas von „Nur mal schnell ein Glas Wasser trinken.“ In meiner Küche stellte ich ihm das Glas vor die Nase und sagte, dass er jetzt dann aber gehen müsse. Er beachtete das Glas nicht, sondern kam auf mich zu und drückte mich gegen die Wand und mir seine Zunge in den Mund. Ich hatte ihn ja schon vorher geküsst und fand es unglaublich doof von mir, dass ich das jetzt nicht mehr wollte. Ich konnte mir nicht erklären, was daran plötzlich so schlimm für mich war. Also machte ich halbherzig mit und forderte ihn dann wieder auf, zu gehen. Ich sagte, er könnte das Glas ja noch austrinken, ich wollte jetzt schlafen. Ich hoffte auf seinen gesunden Menschenverstand, dass er endlich kapierte, dass er hier nicht erwünscht war.

 

Als ich aus dem Bad in mein Zimmer kam, lag der Typ auf meinem Bett. Er zog mich gewaltsam zu sich, grapschte an mir rum und ich sagte, er solle das lassen. Er legte sich auf mich und begann sich rhythmisch zu bewegen. Ich versuchte ihn von mir runter zu schieben und sagte mehrmals deutlich: „Nein!“ und „Ich will das jetzt nicht!“. Er machte weiter. In meinem Kopf ratterte es und ich war plötzlich ganz nüchtern. Ich spürte: Er würde nicht gehen, bevor er nicht hatte, was er wollte. Er wollte Sex und er wollte ihn jetzt und mit mir. Nach 30 Minuten des Protests ließ ich regungslos alles über mich ergehen. Ich verfluchte mich tausendmal, dass ich ihn geküsst und ihm Hoffnungen gemacht hatte. Ich dachte, jetzt müsste ich, als Frau, ihm, als Mann, diese Schuld auch irgendwie erbringen –sozusagen die Konsequenzen für mein Hurentum tragen.

 

Am nächsten Tag lag er immer noch da in meinem Bett und schlief seinen Rausch aus. Ich versuchte, ihn zu wecken. Er wollte nicht hören und ich musste raus aus dieser Situation. Ich ging zu einer Freundin und heulte. Aber ich wusste nicht, warum. Ich dachte, ich fühlte mich so übel, weil ich gerade meinen ersten „Walk of Shame“ hinter mir hatte, vielleicht wegen irgendwelcher Nachwehen der letzten Beziehung oder so. Ich verstand nicht, dass meine „Shame“ viel größer war, als die normale peinliche Berührtheit, dass ich meinen „Walk“ noch jahrelang würde gehen müssen, bis ich wieder unverbindlichen Sex haben könnte. Ich kam nicht darauf, dass mir die Tatsache zusetzte, dass er mein „Nein“ mit Beharrlichkeit zu einem „Ja“ machen konnte.

 

Das Ganze ist inzwischen über drei Jahre her. Ich habe den Kerl noch einige Male gesehen und wenn er verlegen „Hey, Helen“ sagt und auf den Boden schaut, spüre ich, dass er wohl eine Ahnung hat, dass das zwischen uns nicht okay war. Dass er mich pro forma sexuell genötigt hat, ist ihm vielleicht nicht bewusst.

 

 

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