Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

Das Briefdiktat

Teile diesen Beitrag mit Anderen:



Früher, zu Zeiten von Johann Wolfgang von Goethe, da war es total normal, Liebesbriefe zu schreiben, auch wenn der Dichter inflationär häufig von diesem „Frauenköder“ Gebrauch machte. Mittlerweile sind wir im digitalen Zeitalter angekommen und Tag für Tag damit beschäftigt, unsere aktuelle Gefühlslage per Tumblr, Twitter und Facebook an den Rest der Welt weiterzuverbreiten. Durch das tägliche Sich-anderen-Menschen-digital-mitteilen ist der Drang einen Brief zu schreiben irgendwie abhanden gekommen, ganz zu schweigen von der Fähigkeit, ein längeres Dokument handschriftlich und vor allem entzifferbar zu Papier zu bringen. Und damit sind auch all die so liebevoll verfassten Liebesbriefe weniger geworden. Ein guter Indikator dafür ist das Briefpapier: Zu Kinderzeiten hatten wir es in unterschiedlichsten Ausführungen, mit gestanztem Muster, aufgedruckten Motiven und Glitzerpuder in den Ecken. Auf diesem Papier haben wir die schönsten Texte geschrieben, manche davon haben wir sogar wirklich weggeschickt. Aber irgendwann, als man anfing, den Liebsten nur noch schnelle ich-denk-an-dich-SMS zu tippen, ist das Briefpapier ganz leise und unauffällig aus unserem Leben verschwunden.  

Jetzt auf einmal, in dieser schnellen und digitalen Zeit, wird das romantische Liebesbriefschreiben wiederentdeckt. Nicht von einem Dichter, nein, und auch nicht von einem Paar wie Romeo und Julia, die in verzweifelter Liebe verbundenen sind. Sondern von Staaten, die ihre sozialen Statistiken aufbessern wollen. Von Wirtschaftsbossen. Und von Politikern. Bereits vor mehreren Jahren forderte der damalige Bundespräsident Horst Köhler „mehr Liebesbriefe für Deutschland“. Nicht, damit die Deutschen romantischer werden. Sondern um den Verkauf von Wohlfahrtsbriefmarken anzukurbeln. Auch in China hat man das Potential eines handverfassten Liebesbriefes neu entdeckt: Im Land der Mitte, das vor allem für eine strenge politische Linie und einen explodierenden Wirtschaftsapparat steht, werden nun an alle Hochzeitspaare besondere Umschläge verteilt – für Liebespost. Die Briefe der Neuvermählten werden allerdings erst sieben Jahre später zugestellt, denn das ist in China die Zeit, nach der die meisten Ehen geschieden werden. Und vielleicht, so der Gedanke, reicht ja einfach ein bisschen Kleber der vergangenen Tage aus, um die Beziehung wieder zu kitten und die Halbwertszeit der Durchschnitts-Ehe zu verlängern.

Manchmal muss man also erst Umschläge verteilen, damit wieder mehr Liebesbriefe geschrieben werden, aber manchmal reicht auch einfach nur der Appell an die Liebenden und ihre Romantik um die Wirtschaft anzukurbeln. Ab Herbst soll in den Staaten eine Kampagne gestartet werden, die den amerikanischen Bürgern den emotionalen Wert eines handverfassten Briefes ans Herz legt und zu einem landesweiten Liebesbriefschreiben aufruft. Und wie sich das gehört – das bekommt man im Rahmen dieser Kampagne auch erklärt – muss ein „richtiger“ Liebesbrief natürlich per Post an den Adressaten versendet werden. Die eifrigen Schreiber bekommen so das schöne Gefühl, alles richtig gemacht zu haben, während ihre Liebesbekundungen die Postkassen zum klingeln bringen.

Durch solche Aktionen bekommt der klassische Liebesbrief allerdings einen heftigen Schlag in Richtung Valentinstags-Ecke: Eigentlich eine wirklich nette Idee. Aber nur der Post zuliebe die heiligen drei Worte zu Papier zu bringen – nein, danke.  

Dabei sind Liebesbriefe doch etwas so Wunderbares. Sie zeigen dem anderen, dass man bereit ist, sein Leben zumindest für eine kurze Zeit zu entschleunigen, sich Zeit zu nehmen und sich Gedanken zu machen. Dann besorgt man vielleicht noch schönes Papier, nicht das chlor-weiße aus dem Drucker, und fängt an, einen richtigen Brief zu schreiben. Einen Brief, der irgendwann vielleicht in einem Tagebuch landet oder in einer Schreibtischschublade – auf keinen Fall in einem Email-Postfach. Und somit haben diese liebesbriefgestützen Konjunkturmaßnahmen auch einen guten Effekt: Man fragt sich tatsächlich, wann man zum letzten Mal einen solchen Brief geschrieben hat. Dann legt man das Handy mit der halbfertigen „Schatz, du bist wunderbar“-SMS weg und klickt sich vielleicht am Rechner nach Inspiration suchend durch das geistige Gedankengut Goethes. Und man nimmt sich fest vor, mit diesem Brief dem Kapitalismus ein Schnippchen zu schlagen, indem man ihn einfach selbst abgibt. So, wie Goethe es vielleicht auch oft gemacht hat.

Text: julia-siedelhofer - Foto: complize / photocase

  • teilen
  • schließen