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Selbstschutz im Suff

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Seit Montag gibt ein neues Programm, das Menschen vor sich selbst schützt. Es heißt „Mail Goggles“ und richtet sich in erster Linie an Betrunkene. Wer es installiert hat, muss, bevor er eine Email schreibt, ein paar Rechenaufgaben lösen. Schafft er es in der vorgegeben Zeit, lässt ihn das Programm zu seinem Mailprogramm weiter und er darf schreiben. Die Aufgaben sind ziemlich einfach, zum Beispiel will Goggles wissen, wie viel 39 + 17 ist. Mehrere solcher Rechnungen muss man unter Zeitdruck lösen, dann erhält man sozusagen eine Bestätigung, dass man in der Lage ist, eine Mail zu verfassen. Auf den ersten Blick klingt das durchaus nützlich. Schließlich weisen Betrunkene oft ein übersteigertes Mitteilungsbedürfnis auf, das sie in Teufels Küche bringt. Es entsteht in einem Bereich zwischen 1,2 und 1,8 Promille. In diesem Stadium fließen Worte aus Menschen vollkommen unkontrolliert heraus. Es fühlt sich tatsächlich, auch wenn das jetzt vulgär klingt, wie verbaler Durchfall an. Was herauskommt, hat so gut wie keine Substanz, es ist nicht verdichtet, sondern besteht aus losen herabhängenden Gedankenfetzen, zwischen denen sich dann hin und wieder ein gehaltvoller Satz versteckt, wie: „Ich liebe Dich noch immer. Aber in letzter Zeit fühle ich mich so zu Frauen hingezogen.“ Oder aber: „Der Penis Deines Bruder ist viel größer als Deiner.“ Oder: „Ich war letztens beim Urologen. Hast Du schon einmal etwas von Chlamydien gehört? Es ist nicht so schlimm, wie Du denkst. Aber ich finde, Du solltest es wissen…“ Solche Mails soll „Mail Goggles“ verhindern, in dem es sich spätnachts am Wochenende vor das eigene Emailprogramm schaltet. Klingt nützlich. Nur vergisst man die dabei, dass das Verfassen von Texten und der Genuss von Alkohol ein Geschwisterpaar sind, die man nicht durch ein paar schnöde Rechnungen von einander trennen sollte.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Schriftsteller sind im Stadium des ungebremsten Ausflusses zu geistigen Höchstleistungen fähig. Von F. Scott Fitzgerald stammt das Zitat: „Trinken ist das Laster des Schriftstellers.“ Charles Baudelaire war sogar ein großer Fan von Polytox (ugspr. für die Kombination verschiedener Drogen). Ernest Hemingway soff wie ein Loch – im Pariser Ritz 51 Martini Cocktails an einem Abend. Bingetrinker Charles Bukowski behauptete, „er müsse sich einen antrinken, um in den Flow zu kommen“. Jack Kerouac schrieb den Klassiker „On the Road“ zwar nicht im Alkohol-, aber immerhin im Amphetaminrausch. Man stelle sich nur vor, Charles Bukowski würde sich nach zehn plus X Wodka an seinen Computer setzen, um an „Faktotum“ zu arbeiten und dann käme da ein Programm, das wissen will, wie viel 39 + 17 ist. Oder aber Ernest Hemingway wollte nach fünf Erdnussbutter-Sandwiches und 51 Martini Cocktails endlich „Der alte Mann und das Meer“ beenden. Nur weiß er nun gerade nicht mehr, wie viel 5 mal 34 ist. Hemingway würde doch komplett austicken. Wahrscheinlich würde er sogar seine Schrotflinte holen und auf seinen Computer schießen. Hätte es damals schon ein solches Programm gegeben, wären große Werke der Weltliteratur nie entstanden. Aber es gibt noch eine andere Seite: Viele Menschen geben auch im nüchternen Zustand Nonsens von sich. Ich zum Beispiel habe schon ziemlich viele Dinge in meinem Leben geschrieben, die ich im Nachhinein bereut habe. Mir wäre es sehr Recht gewesen, hätte mich vorher irgendjemand auf meine Zurechnungsfähigkeit geprüft – sei es nur ein schnödes Rechenprogramm. Aber selbst das würde nichts bringen. Im Moment des Schreibens - egal ob betrunken oder nüchtern - finde ich meine Texte nämlich immer großartig. Wirklich genial.

Text: philipp-mattheis - Illustration: Christian Fuchsberger

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