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Und das Leben nahm sie einfach mit: Die Klassenschönheit

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Sagen wir mal so, wir Jungs waren schon glücklich, wenn wir die Klassenschönheit irgendwo zwischen Computerraum und Schulbushaltestelle zu sehen bekamen und sie dann kurz verschlingen konnten. Die Seltenheit dieser Begegnungen stand in keinem Verhältnis zur Häufigkeit, mit der wir über sie nachdachten. Es war ganz offensichtlich, dass sich ihr Leben stark von unserem unterschied – obwohl wir auch 16 waren und auch schlechte Noten in Mathe hatten. Was uns aber fehlte, war ihre Art, die Mathe-Fünf in einen Army-Rucksack zu stecken und ihn, mit der Fünf, einfach über die Schulter zu werfen, als würde es tatsächlich nichts bedeuten. Sie war dazu von so absurd perfekter Schönheit, dass uns, die wir zwei Sitzreihen dahinter das Nachmittagssonnenlicht in ihrem Nackenflaum sahen, selbst der alte Herr Krämer an der Tafel menschlicher vorkam als sie. Ihre Schönheit war mehr als die Schönheit derjenigen, die nur makellos waren und die in jeder Klasse herumsaßen, denen man ihre Mängel aber genauso ansah wie den rosa Ralph-Lauren-Pulli. Die wahlweise für arrogant, doof oder prüde galten und die, obwohl sie schön waren und später Manager heiraten würden, nie die Klassenschönheit wurden.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Um als Klassenschönheit in die Schulhistorie einzugehen, war es unabdingbar, dass jeder Junge der Stufe, egal ob gerade liiert oder nicht, rund um die Uhr bereit gewesen wäre, mit ihr Zeit zu verbringen – gerne auch lebenslänglich. Dass darüber hinaus aber auch alle Lehrer bei ihrem Namen kurz Luft holten und dass selbst die Jungsmütter von ihr schon gehört hatten und sie mit einer Mischung aus Sorge und Bewunderung maßen, wenn sie auf der Schulbühne in einer Nebenrolle auftrat (sie hatte natürlich nie die Hauptrolle, weil sie sich überhaupt nicht dafür interessierte). Wenn die Klassenschönheit den Mathekurs verließ, ging sie meist nicht, wie wir anderen, vier Zimmer weiter zum Grundkurs Bio. Sie verschwand. Denn das gehörte unbedingt zur Klassenschönheit: dass sie nicht zuverlässig verfügbar war, dass ihre Anwesenheit vielmehr die ganze Schulzeit hindurch wie ein geheimnisvoller Schleier über den Gängen hing. Manchmal sah man sie Wochen nicht und statt ihr jagte wir dann den Geschichten über sie nach, die ja das Wichtigste und Einzige waren, was wir von ihr hatten. In diesen Geschichten kamen Männer vor, ältere Männer. Sie standen irgendwo mit einer Gitarre auf der Bühne oder wenigstens hinter dem Tresen der einzigen Kellerkneipe, die die Stadt zu bieten hatte. Sie standen jedenfalls nicht wie wir am Ende der Stunde am Lehrerpult, um unsere Note in „mündlich“ zu erfragen. In den Armen dieser dunklen Männer hatte einer die Klassenschönheit gesehen. Ein anderer hatte Bassunterricht bei dem stadtbekannten Hippie, über dessen Schulabschluss keiner Bescheid wusste, den aber vorsichtshalber jeder als „genial“ bezeichnete und aus dessen Bad die Klassenschönheit im klaffendem Bademantel trat – überirdisch schön -, just in dem Moment, in dem unser Mann unbeholfen den Bass auspackte. Sie lächelte und verschwand. Und diese Geschichte überdauerte die Zeit. Weil sie gleichzeitig den Höhepunkt der Klassenschönheit und unserer endlosen Begierde markiert. Wir, die wir herumkrochen und alles langsam lernen mussten, während sie alles bereits hatte, was das Erwachsene ausmachte, und sie hatte es wie selbstverständlich, ohne sich zu bemühen. Das richtige Leben flog ihr zu, oder besser gesagt: Es nahm sie mit, als erste. Und wir anderen blieben zurück und krabbelten erst nach und nach aus dem Biotop, und bis wir draußen waren, hatten wir die Klassenschönheit aus den Augen verloren. Schon auf der Abiturfeier war sie nicht mehr dabei, vielleicht hatte sie sogar das Abi gar nicht mehr gemacht, man munkelte, sie müsste eine Prüfung nachschreiben, wäre aber längst unterwegs, im VW-Bus nach Israel, zu einem neuen Mann. Es blieb von ihr nichts als die paar Fotos in den Jahrgangsbüchern. Der Papierzentimeter, auf dem dort ihr Kopf zu sehen ist, müsste längst abgewetzt sein, von Blicken, genau wie in unseren Zungen eine Delle sein müsste, vom Wenden ihres Namens auf der Stelle. Obwohl die Klassenschönheit ein paar Jahre lang das Maß aller Dinge war, eine wirklich erstaunliche Macht, werden diese Fotos in den Jahrgangsbüchern das Einzige sein, was von ihr übrig bleibt. Und die Geschichte von dem Bademantel. Die wird in wenigen Tagen, auf dem traditionellen Weihnachts-Klassentreffen, von einem erzählt werden, den das Bier und die Jahre an diesem Abend trübsinnig gemacht haben und der sich erinnern möchte, was es war, das einen damals so schlimm-köstlich umtreiben konnte. Wir in der Runde werden dann einmal mehr der Bademantel-Geschichte andächtig lauschen und auch den lichten Nackenflaum wieder vor uns sehen, eine Sekunde. Und dann wird ein anderer an den Tisch treten, um von der Klassenschönheit zu erzählen. Wie er sie neulich in einer Kellerbar einer anderen Stadt zufällig getroffen hat, hinterm Tresen, und sie im ersten Moment gar nicht erkannt hatte, weil sie zugenommen hat an Stellen, von der wir gar nicht wussten, dass sie sie besitzt. Wie sie sich, mehr als bereitwillig, mit ihm unterhalten hatte, in einer Art, die ihm seltsam rückständig vorgekommen war, weil dauernd „krass“ und „geil“ darin auftauchten und auch, weil sie nur Namen und Begebenheiten ansprach, die weit zurücklagen. Von ihrer Gegenwart hatte sie wenig gesprochen, und von dem Kindersitz in ihrem alten Golf, der oben vor der Tür stand, erzählte sie gar nichts. Sie soll nicht unglücklich gewirkt haben. Nur sehr müde. Wir werden diese Schilderung mit einer stillen Genugtuung aufsaugen, aber auch mit dem leichten Herz-Stolpern, mit dem man zur Kenntnis nimmt, dass das alte Freibad abgerissen wurde. Etwas Schönes von früher gibt es also nicht mehr. Die Klassenschönheit hat, wie ein alternder Popstar, den Höhepunkt hinter sich. Auch darin ist sie also die erste.

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