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Ein halbes "Allahu Akbar" sind zwölf „Heil Hitler"

Michaela Rehle/Reuters

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Ich fahre jeden Morgen mit einer S-Bahn zur Arbeit, auf der „Grafing“ steht. Am Dienstagmorgen ist dort – soweit man bis jetzt weiß – ein barfüßiger Drogenabhängiger, der in psychiatrischer Behandlung war, durchgedreht. Er hat einen Menschen umgebracht und drei verletzt. An der Schwelle zu genau dem S-Bahn-Waggon, in den ich vielleicht schon einmal eingestiegen bin. Dabei rief er: „Allahu akbar“ und „Du Ungläubiger, du musst jetzt sterben“!

Ist also der Terror wieder ein Stück näher gerückt? 

Ein erster Augenzeuge glaubte, den Satz vom „größten Allah“ gehört zu haben. Also schlossen die Behörden „einen politischen Hintergrund nicht aus“. So geht Wirklichkeitsbildung heute: Irgendjemand erzählt irgendwas, die Medien schreiben ein sachlich wichtiges „angeblich“ dazu. Und wir alle verbreiten es weiter. Schon am frühen Morgen drang es also durch die Netzwerke bis nach Israel: Ein „islamistischer Terroranschlag", mitten in Bayern! 

 

Dann die erste Pressekonferenz um 9.30 Uhr, ganze fünf Stunden nach der Tat: Politischer Hintergrund möglich, islamistischer Hintergrund unklar. „Allahu akbar“? Unbestätigt. Aber: „Ihr seid alle Ungläubige“, erzählt eine „sichtlich benommene“ Zeugin dem Bayerischen Rundfunk. Vielleicht hat er etwas anderes gerufen. Oder gar nichts. Selbst die, die dabei waren, können es nicht genau sagen.

 

Denn: Erinnerung ist ein mieser Verräter. Vor allem im Schock. Unser gütiger Geist blendet Schrecken aus. Und füllt die Lücken mit alten Szenen auf. Zur Not aus Filmen oder Träumen. "Unser Gedächtnis funktioniert nicht wie ein Kassettenrecorder, der etwas aufnimmt und dann kann man es einfach abspielen“, sagt die amerikanische Psychologin Elizabeth Loftus, die zu Erinnerungen forscht. Wer Zeuge eines furchtbaren Ereignisses wird, erzähle hinterher Alles mögliche. Manchmal fünf verschiedene Varianten. Ohne böse Absicht übrigens. Die Psyche hat ein Schleudertrauma. Erinnerung ist der erste Kollateralschaden.

 

Tagtraum: Vielleicht wird in einer fernen, idealen Zukunft jede Meldung über ein Verbrechen vor einer Frist von 24 Stunden als total lächerlich, weil viel zu unsicher ignoriert? 

 

Heute aber greift öffentlich sofort etwas, was man die "Anschlags-Arithmetik" nennen kann. Es mag ein blöder Zufall sein, aber: In Gelsenkirchen ist in der Nacht auf Dienstag eine Halle abgebrannt, in der Flüchtlinge wohnten. Die Feuerwehr löschte und evakuierte, niemand wurde verletzt. Die Polizei geht vorerst von Fahrlässigkeit, nicht von womöglich politisch motivierter Brandstiftung aus. Die Untersuchungen dauern an. Ein geniales Konzept: Erst mal löschen. Dann klären, warum.

 

Ruft aber jemand etwas von einem Gott oder einem Glauben, während er durchdreht, fällt die Tat in diese eine Schublade, die momentan so weit aufsteht wie selten. Die Anschlags-Arithmetik lautet also grob gerechnet: Ein halbes "Allahu akbar" entspricht zwölf „Heil Hitler". Es braucht nur einen, von einem schockierten Zeugen nacherzählten Ausruf, um ein islamistischer Terrorist zu sein. "Gott sei Dank hat er nicht Valar morghulis gerufen“, twitterte jemand. Sonst hätte man den ersten offiziellen "Game of Thrones“-Anschlag. Sarkasmus off.

 

Als hätten wir darauf gewartet, endlich wieder Angst haben zu können, ist für viele das kolportierte „Allahu akbar“ die eigentliche Meldung. Dass der Täter „Paul H. H.“ heißt, Deutscher ist und aus Hessen stammt? Interessiert nur am Rande. Hat schließlich nicht der IS genau zu so etwas aufgerufen? Scheinbar wahllose Attacken, damit wir uns nirgends und nie sicher fühlen? 

 

Wir leiden an Terrorangst. Geht es uns besser, wenn wir so eine erratische, sinnlose Tat eines verzweifelten Einzelnen in ein großes mörderisches Ganzes einordnen können? Verkraften wir es leichter, als „Ungläubige" getötet zu werden, denn als zufällig tragische Passanten? Und bestätigt nicht ein islamistischer Irrer die politischen Vorurteile eines leider nicht kleinen Teils der Bevölkerung mehr, als ein "nur" irrer Irrer?

 

Dann die Pressekonferenz am Nachmittag: Der Täter gibt zu, „Allahu akbar“ gerufen zu haben. Ansonsten ist er hochgradig verwirrt, hat keinerlei islamistischen Hintergrund oder Mittäter, keine Propaganda auf Facebook oder seinem Computer, keine Kontakte in die Szene oder nach Syrien. Er ist rein zufällig nach Grafing gefahren. Und: „Der Beschuldigte sagt, er habe die Schuhe ausgezogen, weil er das Gefühl gehabt habe, Wanzen an den Füßen zu haben."

 

Welchen Feind der Mörder meinte, als er angriff – man wird es vielleicht nie erfahren. Aber jeder von uns hat ein Instrument namens „Common Sense“, um Plausibilitäten einzuschätzen. Vermutlich ist der arbeitslose Schreiner Paul H. H. tatsächlich eine Art Trittbrettfahrer islamistischer Anschläge. Einer vielleicht, der Bedeutung durch eine große Bedrohung sucht. Schließlich reden seit Jahren alle nur noch davon. Nicht völlig abwegig, dass sich psychisch Kranke wie er davon inspirieren lassen. Allah ist quasi seine Weltformel. Vor vierzig Jahren hätte er vielleicht gegen das „Schweine-System“ gekämpft. Heute eben gegen "die Ungläubigen". Und doch nur gegen seine inneren Dämonen.

 

Dem IS mag egal sein, ob er ein Märtyrer oder ein armer Irrer ist. Mir nicht. Denn das unterscheidet uns: der Wille und die Fähigkeit, zu unterscheiden. So etwas Ähnliches denke ich, als ich auf dem Heimweg in die S-Bahn steige.

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