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16. August 1977: Die Nacht, als wir unsterblich waren.

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Angestrichen: Aber wenn ihre Musik starb – würden sie nicht mit ihr sterben? Sie war das Herz ihrer Welt gewesen, solange Terry denken konnte. Ihre Musik war mehr als ein Soundtrack: Es war eine Maschine, die sie am Leben erhielt, von der Kindheit durch die Pubertät hinein in etwas, das vielleicht als Reife durchgehen könnte. Vielleicht würden sie alle neue Dinge erfinden müssen, für die es sich zu leben lohnte, und die Musik würde etwas sein, zu dem sie nur ab und zu zurückkehrten – wie die Erinnerung an jemanden, den man verloren hatte.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Wo steht das denn: Ziemlich am Ende von Tony Parsons autobiographisch gefärbtem, atemlosem Roman „Als wir unsterblich waren“. Parsons erzählt darin mitreißend die Geschichte von drei Freunden und die Geschichte einer regnerischen, scheinbar nie enden wollenden Nacht, die das Leben der drei Protagonisten grundsätzlich verändern wird. Es ist nicht irgendeine Nacht. Es ist die Nacht des 16. August 1977. Die Nacht, in der Elvis starb und in der Punk seine Unschuld verlor und sich von einem Lebenselixier für einige wütende Jugendliche in einen Hype verwandelte. Es ist die Nacht, in der aus den drei Jungs Terry, Leon und Ray erwachsene Männer werden. Terry, Leon und Ray arbeiten für das Musikmagazin „The Paper“, das unverkennbar dem „New Musical Express“ nachempfunden ist, bei dem Parsons selbst als junger Mann den Punk groß schrieb. Damals, als er noch nicht Bestsellerautor war, sondern mit The Clash und den Sex Pistols die Nächte durchfeierte. Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein Terry und Leon sind die Jungen Wilden der Redaktion, die Authentizität ins Blatt bringen. Sie berichten nicht nur über eine Szene, sie sind die Szene – vor allem Terry, der dabei war, als Jungen mit Stachelfrisuren, engen Hosen und Doc Martens und Mädchen mit zerrissenen Strumpfhosen, roten Mündern und „Fuck-you-to-Hell-and-back-Absätzen“ begannen, abgeranzte Orte des Londoner Nachtlebens wie das ehemalige Striplokal „Western World“ zu besetzen und als Bands wie The Jam noch keine Plattenverträge hatten: „... den ganzen glühend heißen Sommer von 1976 und den darauf folgenden eiskalten Winter hindurch konnte Terry jederzeit ins Western World kommen, und er kannte jedes einzelne Gesicht. Man hatte den Eindruck, dass jeder ein Musiker, Journalist, Fotograf, Bandmanager, Modedesigner war – oder es zumindest sein wollte, auf der Suche nach einem Fluchtweg aus dem alten Leben und der lähmenden Normalität. ... Sie alle waren scharf auf was Neues, süchtig nach Leben, zu allem bereit.“ Auch Terry, Leon und Ray sind auf der Suche nach Leben, nach echtem Gefühl und auf der Flucht vor ihrer Herkunft. Terry möchte der Ginfabrik, in der er früher gearbeitet hat, entkommen - und der Arbeiterwelt seiner Eltern, die aus Nachschichten auf dem Fleischmarkt, Salat ohne Dressing und Fertigcurry aus der Tüte besteht. Leon, der lieber über Demos der rechtsradikalen National Front schreiben will als über Musik und gleichzeitig davon träumt, dass Punk als Lebenshaltung die Gesellschaft verändern kann, flüchtet vor der scheißliberalen Bildungsbürgerwelt seines Vaters. Und der gerade erst 17-jährige Ray, ein zehn Jahre zu spät geborener Hippie, versucht über Bob Dylan, Joni Mitchell und die Beatles dem trostlosen Alltag mit einem rassistischen, versoffenen und prügelnden Vater, einer depressiven Mutter und der Enge einer Vorort-Doppelhaushälfte, in der er mit seinem kleinen Bruder ein Zimmer teilen muss, zu entkommen. Gerade das ist das Schöne an diesem Buch: Dass es nicht nur um das Abfeiern einer Musikrichtung geht oder um die Erinnerungen eines alternden Musikjournalisten an die Zeit, als er jung war. Sondern um die Frage, wie man sich frei macht von den Zwängen der Gesellschaft. Darum, wofür man leben will und wie man es schafft, anders, richtiger als die eigenen Eltern zu leben. Und natürlich geht es auch um die Suche nach Liebe und die große Hoffnung, dass die Liebe die Antwort auf all diese Fragen sein könnte. Wir kommen, um uns zu beschweren Die Musik ist dabei nur der Rahmen, der die ineinander verschränkten, mal parallel laufenden, mal sich kreuzenden Geschichten der drei Protagonisten, ihrer Familien und ihrer Beziehungen zusammenhält. Sie ist Ausgangspunkt der Suche nach Sinn und Mittel der Erkenntnis. Für einen kurzen Moment hat jeder der drei Freunde in dieser Nacht das Gefühl, unsterblich zu sein und gefunden zu haben, was er suchte, nur um es kurz danach wieder zu verlieren. Einzig Ray hat es am Ende der Nacht geschafft, sich von seinem tyrannischen Vater abzunabeln. Aus dem sentimentalen Hippie ist ein richtiger Journalist geworden. Leon hat dagegen alles verloren: seinen Job bei „The Paper“, seine Liebe (an einen Typen, der wie Rod Stewart aussieht), sein Zimmer in einem besetzten Haus (an ein Vollstreckungskommando) und vor allem seinen Traum, dass soziale Veränderungen möglich sind. In der Nacht hatte er zum ersten Mal eine Rede von Margaret Thatcher im Radio gehört und erkannt, dass nicht die "Sieg Heil" brüllenden Nazis der National Front das Problem sind. Und Terry? Terry erfährt am Ende der Nacht, dass er Vater wird und hat erkannt, dass sie eben nicht mehr allesamt Teil einer Sache sind wie damals im Sommer ’76, als alles begann. Seine alten Kumpels haben sich entweder zerstritten oder scheitern gerade am zweiten Album und die Gesichter in den Clubs kennt er nicht mehr. Das Rad der Musikgeschichte hat sich schon wieder weitergedreht und Terry unter sich begraben. „Als er darauf wartete, dass der Zug aus dem Bahnhof fuhr, fühlte Terry sich glücklich, dass er eine Frau hatte, die er liebte, dass ein Baby unterwegs war und dass er seine eigene kleine Familie hatte. Nach der Hochzeit würde alles einfacher werden, oder?“ Steht im Regal: Zwischen den gesammelten Jahrgängen der Musikzeitschriften Spex, Intro und natürlich dem NME und dem Roman „Wann nur wenn nicht jetzt“ von Marc Spitz. Als wir unsterblich waren von Tony Parsons ist im Blumenbar Verlag erschienen, hat 429 Seiten und kostet 19,90 Euro. Cover: Crish Klose Blumenbar Verlag

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