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Berlin, du kaputte Metropole

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Die Finanzkrise greift aus den USA auf Europa über, im Pateiengezänk will sich die SPD von den Linken distanzieren, die in der Krise den Beweis für die Widersprüche des Kapitalismus’ sehen und mittendrin: Berlin als eine der schillernsten, aber auch kaputtesten Metropolen Europas. Erschreckend aktuell wirkt das, was Jason Lutes in seinem Comic "Berlin – Bleierne Stadt" beschreibt. Und das ist umso verwunderlicher, als es der zweite Teil seiner Trilogie über die Hauptstadt ist, auf die viele deutsche Leser nach dem gefeierten "Berlin – Steinerne Stadt" fünf Jahre warten mussten. Lutes lässt sich eben Zeit für seine Geschichte, die im September 1928 beginnt und dereinst im Januar 1933 enden soll. Die Qualität seiner Arbeit gibt ihm recht.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

"Bleierne Stadt" beginnt einen Monat nach dem Ende des Vorgängercomics, der die Szenerie im "Blutmai" 1929 verlässt. Noch immer wird die Geschichte der von Berlin berauschten Künstlerin Marthe Müller und dem verbitterten Intellektuellen Kurt Severing erzählt. Und wieder wird die Handlung um ein ganzes Pandämonium von Nebenfiguren und -handlungen erweitert, die ein vielstimmiges, bewegendes Bild einer Welt am Abgrund zeichnen: Kurt ahnt als Journalist den drohenden Untergang, während Marthe immer noch die weltoffene, liberale, aufregende Stadt feiert.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Dass Lutes nicht, wie manch anderer, zwanghaft bemüht ist, Geschichte in dramatische, heroische Szenen zu kleiden, ist seiner künstlerischen Tradition geschuldet. Lutes ist weltweit einer der virtuosesten Vertreter der Ligne Claire: Klare Striche, exakte Proportionen und Perspektiven produzieren einen nüchternen Realismus in Schwarzweiß. Oft möchte man meinen, eben diese oder jene Straßenecke beim letzten Hauptstadtbesuch tatsächlich gesehen zu haben. Vor diesem authentischen Hintergrund fungieren vereinfachte, cartoonhafte Figuren als Projektionsfläche für den Leser. Ähnlich verhält es sich mit der Handlung: Bis ins Detail arbeitet Lutes die historischen Umstände und Zusammenhänge heraus, um vor der authentischen Kulisse seine Figuren agieren zu lassen. Da ist der schwarze Jazz-Musiker Kid, der im Schatten seiner Träume lebt, oder die obdachlose Halbwaise Silvia, deren Vater sich von Armut und Verzweiflung erdrückt dem Nationalsozialismus zuwendet. Oder da ist Margarethe, die in dekadenter, oberflächlicher Genusssucht vor einer zerfallenden Welt in obskure Vergnügungen flieht. Lutes’ Figuren sind Anti-Helden, die als Individuen von den Ideologien zerquetscht zu werden drohen und deren Leben nicht für Heroisierungen taugen. Selbst Kurt Severing, der als vielleicht einziger das kommende Unheil ermisst, ist kein aufrechter Widerstandskämpfer, sondern beobachtet hilflos, wie er selbst zum sprach- und hoffnungslosen Gespenst verkommt.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Leider verliert sich Lutes selbst manchmal in dieser Welt und ihrer Vielzahl von Einwohnern. So erinnert man sich nur schwer an den Schutzpolizisten Lemke und den Industriellen Faber aus "Steinerne Stadt", deren Geschichten dann doch etwas plötzlich im Laufe dieses Bandes enden - noch bevor der Leser eine wirkliche Beziehung zu ihnen finden konnte. Zudem haben einige Szenen, wie eine Redaktionssitzung der legendären „Weltbühne“ mit Tucholsky, Ringelnatz und Carl von Ossietzky zwar Charme, nehmen jedoch mit bis zu sieben Seiten zu viel Platz in Anspruch und wirken so zu sehr nach aufbereitetem Geschichtsunterricht, wie er im ersten Band nicht vorgekommen ist. Insgesamt bleibt die "Bleierne Stadt" ein außergewöhnlicher Comic und ein hervorragendes Stück Literatur. Das liegt nicht zuletzt an der Arbeit des kongenialen Übersetzers Heinrich Anders, der allen Figuren ihre eigenen Stimmen schenkt. Vor allem aber ist es Lutes’ Talent als graphischer Erzähler geschuldet. Er kann in Gesichtsausdrücken ganze Romane erzählen weiß und macht in einer brillanten Bildkomposition selbst ein Klarinettensolo über zwei Seiten hörbar. Das macht das Warten auf den dritten Band umso schwerer. ***

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

"Berlin - Bleierne Stadt" ist im Carlsen Verlag erschienen und kostet 14 Euro. Die Abbildungen sind dem besprochenen Band entnommen.

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