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Die blinde Fotografin

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Angestrichen: Ich stehe im Flur, das Telefon klingelt, es ist ein altmodisches graues Modell mit Wählscheibe, das schrill und mechanisch läutet, in einer Hand halte ich die aufgeschraubte Espressokanne, ich denke über die seltsamen Ereignisse des gestrigen Abends, der vergangenen Nacht nach und frage mich dann, ob das Klingeln eines Telefons Grund genug sein kann, einen Menschen zu verlassen, … Wo steht das denn? In der Geschichte „Im Flur“ aus dem neuen Erzählungsband „Die blinde Fotografin“ des 27-jährigen Autors Paul Brodowsky, der an der Universität Hildesheim Kreatives Schreiben studiert und die Hildesheimer Literaturzeitschrift „Bella Triste“ mit herausgegeben hat. Zusammen mit Ariane Breidenstein, Kevin Vennemann und Thomas Melle bildet er die Jugend-Frühjahrsoffensive von Suhrkamp, die von Verlegerin Ulla Unseld-Berkéwicz als Quartett der "Aufständischen, Einzelgänger, Reizfiguren" angepriesen wird, weil es bei ihnen "endlich wieder um Sprache geht und um die Sprachlosigkeit in der Sprache".

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Einbildung und Erinnerung, Wahrheit und Wahn, Rückblick und Gegenwart überlappen sich bei Brodowskys jungen männlichen Protagonisten, aus deren Perspektive die sechs Erzählungen geschrieben sind. Eine junge Fotografin erblindet und bittet ihren Freund, ihr zu beschreiben, was er sieht, ein junger Komponist erfährt im Urlaub mit seiner Freundin, dass sie eine Affäre mit seinem Freund und Kompositions-Konkurrenten hat und Max malt sich in der U-Bahn aus, wie es wäre, mit dem Mädchen gegenüber zusammen zu sein. Nur selten, wie etwa in der Erzählung „Zoltan und ich“, in der es um eine Dreiecksbeziehung unter Musikstudenten geht, erzählt Brodowsky eine Geschichte im klassischen Sinn, in der der Leser die Figuren kennen lernt, sich eine Beziehung zwischen ihnen entwickelt und der Leser am Ende ein komplettes Bild vor Augen hat. Die anderen fünf Geschichten sind eher Fragmente, Versuchsanordnungen oder Schnappschüsse, die winzige Ausschnitte aus dem Leben der jungen großstädtischen Protagonisten beschreiben und sich um das ewige Thema vom Verlieben, Lieben und Entlieben drehen. Mit großer sprachlicher Genauigkeit und Konzentration beschreibt Brodowsky Momente, in denen eine Beziehung kippt und zu zerbrechen beginnt oder Momente, in denen alles möglich ist und sich eine Liebe entwickeln könnte. Dem Leser, aber auch sich selbst, bleiben diese Figuren oft fremd. Sie suchen und tasten mehr, als dass sie wüssten, was sie tun oder was sie wollen. Vieles bleibt rätselhaft, wird nur angedeutet und bewusst im Ungewissen gehalten, was es dem Leser manchmal nicht ganz leicht macht. Auch sind nicht alle Geschichten so gelungen wie „Im Flur“ oder „Zoltan und ich“. Manchmal – wie im „Nachtstück“, in dem zwei Paare durchs nächtliche Hongkong irren - scheint die Lust an der Konstruktion einer Geschichte und an der Kunst des Schreibens größer gewesen zu als die Lust an der Geschichte selbst. Aber gerade Brodowskys Beschreibungskunst und die Erzählweise, verschiedene Ebenen, Zeiten und Perspektiven miteinander zu verschränken, sind es auch, die die Geschichten so faszinierend machen: In einem einzigen Telefonklingeln kann dann eben doch eine ganze Beziehungsbiografie vom Verlieben übers Lieben bis zum Entlieben liegen. Die blinde Fotografin ist bei Suhrkamp erschienen, hat 128 Seiten und kostet 14,80 Euro.

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