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Die entschriftete Gasse

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Wo steht das: In einem Bericht über ein Kunstprojekt, in dessen Verlauf sämtliche Schilder und Zeichen einer österreichischen Gasse verhüllt wurden.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Wie man eine ungekannte Stadt wahrnimmt, hängt in vielen Fällen von den ersten Metern ab, die man in ihr zurücklegt. Von dem, was auf diesem Weg, während des Ankommens, zu sehen ist. Es ist jenes gespannt-unruhige aus dem Flughafenbus- oder Zugfenster spähen, jenes übersensible Aufnehmen von Banalitäten, von Häuserrückwänden und Plakatierungen, das wir mit viel größerer Aufmerksamkeit vollziehen, als das spätere, gesättigte Besichtigen klassischer Stadtmerkmale wie Dome, Museen, Denkmäler. Denn so originär diese Baudenkmäler auch sein mögen, sie unterscheiden sich in ihrem Denkmalsein weniger voneinander, als die erhaschten Alltäglichkeiten auf fremden Straßen, die neuen Auslagen und Aushänge, die exotischen Werbungen und Schriftzüge. Anhand dieser urbanen Zeichen wird uns das unmittelbarste Fremdsein vermittelt, auf diesen Aushängeschildern einer Stadt, die wir schon am Bahnhof oder auf dem Weg zum Hotel durstig aufnehmen, lassen sich die neue Sprache, ungekannte Firmenlogos, fremde Gewohnheiten ( plakatierte Busfahrpläne, Wahlplakate an Taxis...) oder gar schon neues Gesellschaftsbilder erfahren und uns woanders angekommen fühlen. Der Beschilderung und Zeichensetzung im öffentlichen Raum fällt also eine viel wichtigere Rolle zu, als nur ihr profanes Zweckdasein als Gebrauchs- oder Werbeinformation. Die beiden Künstler Christoph Steinbrener und Siegfried Mattl nahmen diesem Umstand und die damit einhergehende Verantwortung jedes Stadtbeschrifters zur Anlass, um im Juni 2005 die Wiener Neubaugasse komplett zu entschriften. Sie verkleideten Ladenschilder, Aushänge, Rolling Boards und Hinweistafeln, Werberöhren und Logo-Buchstaben mit gelben Planen und brachten das innenstädtische Zeichengebrabbel einer Einkaufsstraße damit eindrucksvoll zum Schweigen. Über dieses Projekt „DELETE!“, ist jetzt ein Buch erschienen, das mit vielen Fotos die seltsam amputierte Gasse zeigt und die Verhüllungsaktion mit sorgfältig ausgewähltem Sekundärmaterial unterfüttert.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Die beiden Verantwortlichen erzählen vom Planen und Realisieren der Idee, von den dumpfen Anfeindungen der Schildbesitzer und den aufmerksamen Reaktionen der Passanten, die sich als Gründe für die Verhängung alles zwischen Globalisierungskritik und Stadtästhetisierung vorstellen konnten. Unberührt blieb von den blinden Schildern und Zeichen der Neubaugasse kaum einer, den die Straße wurde damit regelrecht neutralisiert und ihrer Oberfläche beraubt Der Betrachter erkennt das Fehlen wohl, auch wenn er im Einzelnen nicht sagen kann, welches Schild fehlt und was überhaupt auf all den verdeckten Flächen stand. Die sprechenden Fassaden sind einfach zu einer visuellen Gewohnheit geworden und das Kunstprojekt „DELETE!“ schafft es, diese visuelle Gewohnheit aufzubrechen und damit unser Sehgewohnheiten zu schärfen, zu analysieren und zu stimulieren. DELETE!- Die Entschriftung des öffentlichen Raums von Siegfried Mattl, Christoph Steinbrenner und Rainer Dempf, 160 Seiten, 18 Euro, ist erschienen bei orange press.

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