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Eine romanartige Geschichte über eine Fernbeziehung

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Du reihst die Ortsnamen aller Stationen aneinander zu einem langen, sich schleppenden Silbenzug. In jedem Buchstaben, der eine Fläche in sich einschließt, brennt ein dottergelbes Licht in die schwarze Flut hinaus. Cisalpino-Borromeo von Basel nach liestal-olten-bern-thun-spiez-brig-domodossola-verbania-pallanza-stresa-arona-gallarate-milano-centrale, umsteigen in den Treno Espresso 833 nach milano-rogoredo-lodi-piacenza-fiorenzuola-fidenza-parma-reggio-emilia-modena-bologna-centrale-roma-tiburtina. Das ganze Alphabet, das notturno deiner Reise, diese beiden Züge- Du siehst die Wortreihe fahren, gleichmäßig auf leicht gewundenen Schienensträngen, zwischen Bologna und Firenze in einem langen Tunnel durch den emilianischen Apennin, und sobald eine Stadt erreicht ist, fällt der jeweilige Name ab, wird der Silbenzug um einen Waggon kürzer, bis am Morgen nur noch tiburtina übrig ist. Kein Gewicht mehr, alles aufgelöst, nur noch dieses winzige Gefährt unter dem saftigen Band der Morgendämmerung, nur noch Tiburtina, und das ist die Lok. Würdest du ihr davon erzählen, wären das ein paar Sätze, aus denen nie ein Gespräch wird. Die zwischen euch aufgefächert daliegenden Kilometer, das Versprechen, das euch nicht über die Lippen kommt, aber umso mehr in die Augen steigt, und wie ihr euch immer wieder alle Hindernisse aus dem Weg küsst, aus dem Pfad, auf dem jetzt die Rentiere traben, verküsst, verbrieft, verhenkert, Rentiere in eienr Grasschneise nach Italien, aber nichts tut sich.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Wo steht das? In einem kleinen Buch aus dem Schweizer bilger verlag. Es hat den schönen Titel „Die Anomalie des geomagnetischen Feldes südöstlich von Domodossola“. Geschrieben hat es Urs Mannhart, von dem schon der Roman „Luchs“ erschienen ist. Etwas breiter als A5 kommt es ohne Schutzumschlag in mattem Papier daher und man bekommt sofort Lust, die Nase reinzustecken. Es geht um Liebe auf Distanz, oder auch: eine Fernbeziehung mit den Endstationen Bern und Rom. In Roma Tiburtina wohnt Elisa, genannt Luise und geliebt von einem jungen Mann aus der Schweiz. Alle zwei Wochen macht sich einer der beiden Verliebten auf die Reise, raus aus dem Alltag, rein in den Nachtzug und ein liebestrunkenes Wochenende. Dazwischen liegen zwei einsame Wochen und zwei lange Fahrten. Als der junge Mann von dieser Liebe erzählt, sitzt er fest in Domodossola, einem kleinen Ort auf der über 700 Kilometer langen Strecke. In Domodossola, das das „a“ seiner Meinung nach nur hat, um zu beweisen, dass es außer „o“ noch andere Vokale gibt, bleibt er wegen eines Streiks stecken. Er hat Geburtstag, und den wollte er mit Luise feiern, jetzt hängt er fest, im Nirgendwo zwischen Rom und Bern und ist verzweifelt. Das alles erfährt der Leser nur indirekt, während der junge Mann in Gedankenfetzen von seiner Liebe erzählt. Zwischendrin, einfach so, sind immer wieder Passagen über geomagnetische Felder, im Fachjargon geschrieben. Sie stehen einfach da, und haben scheinbar keine tiefere Aussage. Aber ohne sie wäre der Roman gewöhnlich. Obwohl vollkommen wissenschaftlich, machen sie den Text angenehm rätselhaft. Das Buch zu lesen heißt nicht nur Eintauchen in die Höhen und Tiefen einer Fernbeziehung. Es bedeutet, mit unterwegs sein in den Nachtzügen, in Mailand beim Umsteigen, beim Ankommen in Tiburtina und beim morgendlichen verliebten Strandausflug. Eier gehören nicht in Teigwaren, lernt man aus dem Buch. Und Luise riecht so sehr nach Hefe, dass manchmal beim Lesen beinahe ein leicht säuerlicher Geruch in die Nase steigt. Obwohl das ganze Buch aus Domodossola erzählt wird, erfährt man die ganze Liebesgeschichte - in Sätzen, die über zehn Zeilen gehen und in solchen, die jeder Deutschlehrer als unvollständig anstreichen würde. „Subjekt fehlt“ oder „G“ für Grammatik würde daneben stehen. Anstreichen möchte man die Sätze auch, ganz leicht nur, und mit Bleistift - aber höchstens deswegen, weil sie so schön sind oder so wahr. Man zapft die Gedanken des jungen Mannes an, der so verliebt ist, dass er sogar im Zug nach Rom noch Briefe schreibt an Luise, weil er es anders nicht aushält. Das Buch ist anmutig - schlecht, gut oder lesenswert taugen nicht als Kriterien. Der beste Beweis für die Unbedingtheit dieses Buches ist vielleicht der, dass man am Ende fast selbst ein bisschen verliebt ist, in Luise. Steht im Bücherregal zwischen: Schiffbruch mit Tiger von Yann Martel und dem Phaidon-Bildband über Italien. Die Anomalie des geomagnetischen Feldes südöstlich von Domodossola von Urs Mannhart, 155 Seiten, 20,00 Euro. Erschienen im Bilger Verlag.

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