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Endlose Heroin-Sex-Karussellfahrt

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Cover: Kiwi Koeln angestrichen: Ich war high, und das Blut tropfte mir aus dem Arm. Doch nun musste ich die Nadel durch meine Haut hindurch festhalten, damit sie nicht in meinen Blutkreislauf gelangte. Es gelang mir, sie herauszuziehen, aber mein nächstes Dilemma wartete schon: Ich hatte kein Heroin, um vom Koks runterzukommen. Darum trank ich den gesamten Inhalt meiner Minibar leer: den Whiskey, den Wodka, den Wein. Eins nach dem anderen trank ich diese kleinen Fläschchen leer, bis ich schließlich das Bewusstsein verlor. Wo steht das denn? In der Autobiografie "Scar Tissue“ von Anthony Kiedis. Der Sänger der Red Hot Chili Peppers befindet sich in einem Luxushotel in einem Wolkenkratzer auf Hawaii. Die Vorhänge sind zugezogen, nur dann und wann blitzt die Sonne ins Zimmer. Sein Geist, so schreibt er, sei zu diesem Zeitpunkt auf ein Häuflein schmutziger Asche reduziert gewesen, die sich "irgendwo in seinem Arsch befand". Es ist das Jahr 1998, in wenigen Wochen stehen die Aufnahmen zu dem Album "Californication“ an. Wer Anthony Kiedis bislang nur als den vor Energie strotzenden Sänger mit dem kräftigen Oberkörper kannte, wird ihn in diesem Buch von einer ganz anderen Seite kennen lernen. Als Egomanen, der ausflippt, weil ihn seine Freundin betrogen hat, obwohl er sie selbst auf Tour mit 100 Frauen hintergangen hat. Als Selbstdarsteller, den mit einer Socke über dem Schwanz "ein total befreiendes Gefühl der Ermächtigung“ überkommt. Als Einzelgänger, dessen Selbstsucht ihn immer wieder in die Einsamkeit treibt. Oder als Junkie, der sich mit Verbrechern unter einer Brücke mit Speedballs vollknallt. Schon seine Jugend hatte Anthony im Dauerrausch verbracht. Papa Blackie, ein Drogendealer, drehte ihm mit 12 Jahren seinen ersten Joint, mit 14 probierte er das erste Mal Heroin, mit 26 machte er die erste Entziehungskur. War er clean, dienten ihm Models und Schauspielerinnen als Ersatzdroge, die ihm die nötige Dosis Selbstbestätigung gaben. Ein Rockstar, der Drogen und Frauen verschlingt – das ist eigentlich nichts Neues. Das Ungewöhnliche an der Autobiografie ist die Offenheit, mit der Kiedis sein Leben vor dem Leser ausbreitet. So intensiv wie er es auskostet, ist auch das Leseerlebnis. "Scar Tissue“ ist keine dieser Biografien, in denen entweder nichts Neues oder nur Halbwahrheiten stehen. Der funky monk hält sich nicht an die Regel "What happens on tour, stays on tour“, sondern plaudert über seine Auseinandersetzungen mit Gitarrist John Frusciante, das Auf und Ab seiner Freundschaft mit Bassist Flea oder seinen eigenen Rausschmiss aus der Band. Der Leser ist immer ganz nah dran am Geschehen. Er erlebt, wie Nina Hagen Anthony Kiedis zu dem Song "Give it away“ inspiriert, er mit Billy Corgan hinter der Bühne Basketball spielt oder in der Garderobe auf einen übermüdeten Kurt Cobain in einem zerrissenen Kleid trifft. Klar, Anthony Kiedis gefällt sich in der Rolle des Typen, der das Leben von allen Seiten kennengelernt und keine Nuance des Rock'n'Roll ausgelassen hat. Er weiß, welche Wirkung er erzielt, wenn er beschreibt, wie er als Junge neben einer halbnackten Cher im Bett liegt oder ihm ein Groupie beim Stagediving einen Blowjob gibt. Bei aller Selbstbeweihräucherung ist ihm jedoch anzurechnen, dass er sich nicht davor fürchtet, sich selbst zu demontieren und die ernüchternden Seiten des Star-Seins zu beschreiben. Erst auf den letzten Seiten schafft er den endgültigen Absprung von den Drogen. Kein Buch über das Leben, sondern das Überleben. Steht im Bücherregal zwischen: "Tagebücher" von Kurt Cobain und "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ von von Christiane F., Kai Hermann und Horst Rieck. "Scar Tissue“ von Anthony Kiedis und Larry Ratso Sloman. Erschienen bei Kiepenheuer & Witsch. 432 Seiten, 14 Euro 90.

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