Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

Ostersonntag - Das erste Buch von Harriet Köhler

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Angestrichen: „Wer ist dieser kranke Vollidiot? Was ist nur mit ihm los? Du könntest auf der Stelle kotzen. Wenn du dafür nicht ins Bad müsstest, in das sich dein kranker idiotischer Ehemann eingesperrt hat, würdest du kotzen.“ Wo steht das denn? Harriet Köhler ist eine kleine, fröhliche Person mit Locken, die ganz gelegentlich auch mal hier durch die jetzt.de-Redaktion marschiert. Nun hat sie einen Roman geschrieben, der vor allem und zunächst durch eine verblüffende Erzähltechnik auffällt. Verblüffend deshalb, weil sie einfach und effektiv ist, aber bisher selten so konsequent durch zweihundert Seiten gezogen wurde. Die handelnden Protagonisten werden hier ständig direkt angesprochen, ganz als ob die Erzählerin im Kopf der jeweiligen Person säße. Das klingt so: „Also los, nur zu, das Spiegelschränkchen, mach es auf. Es hat dich schon öfter gerettet. Vielleicht ist noch ein Valium darin?“

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Die Personen, Familienmitglieder, wechseln, der unheilvolle innere Monolog bleibt und setzt die tatsächlichen Handlungen auf eine unbedeutende Ebene zurück. Es wird nur ein bisschen eingekauft, gevögelt und viel rumgesessen, aber eben sehr viel gedacht, über das was war und das was gleich sein wird. Eine Midlife-Crisis-Mutter, ein Vater mit beginnender Demenz, eine Tochter mit urbaner Erfolgsbiographie und ein Sohn mit urbaner Versagensbiographie denken sich einzeln auf den anstehenden gemeinsamen Ostersonntag hin. Der, logisch, wird die Hölle werden, denn man ist, wie es sich für den Familienroman des neuen Jahrtausends schickt, gehörig verkorkst. Die Gräben zwischen diesen vier Menschen sind tief, sie rühren her von nicht aufgearbeiteten Familienintrigen, von der hasserfüllten Sprachlosigkeit der Eheleute, der Krankheit des Vaters und vor allem vom Schweigen über Friederike, dem dritten Kind, dessen Suizid die Gefühlslage der Familie endgültig einfrieren ließ. So wird zunächst detailliert und schweigend gehasst und beschuldigt, doch je näher der tatsächliche Ostersonntag rückt, desto weicher werden die Kanten und am Schluss vermeint man, in all der erbarmungslosen Gedankenkälte einen Hauch von Frühling zu verspüren – ohne dass es eine der vier Personen so recht darauf anlegt. Diese Geschichte fesselt, im Sinne einer unbedingten Lust, sie zu Ende lesen zu wollen und das ist für einen deutschen Debütroman ja schon sehr viel. Vor allem liegt das an dem starken eindringlichen Stil und nicht unbedingt an der Geschichte selber, die mit ihren Versatzstücken (Selbstmord, Drogen, Lifestyle-Verzweiflung) doch ein bisschen wirkt, wie schnell aus dem Regal für moderne Schicksals-Prosa entnommen. Fräulein Köhler kann aber sehr gut noch unbekannte Sätze schreiben, sie vermeidet Gemeinplätze und Phrasen und setzt so etwa alle zwanzig Seiten eine Wendung, die einen verwundert inne halten und drei vier mal drüber lesen lässt, so kraftvoll und innig ist sie. Steht im Bücherregal zwischen: Jonathan Franzens "Korrekturen" und der "Six Feet Under" -DVD-Box Ostersonntag von Harriet Köhler, 210 Seiten, 17,90 Euro, ist bei Kiepenheuer&Witsch erschienen.

  • teilen
  • schließen