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Tausend Mal Ich: Warum das Leben gerade so oft gezeichnet wird

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Kommt einer her und erzählt: sein Leben. Würde man hören wollen? Würde man bleiben, in einer Kneipe oder gar auf offener Straße, wenn da einer käme und sagte: Ich erzähle dir jetzt mal mein Leben? Eher nicht. Ist doch seltsam. Ist doch peinlich auch. Und überhaupt: Wer geht schon los und erzählt wildfremden Menschen sein Leben, obenhin ungefragt? Zeichner tun das, und zwar massenweise, so kommt einem das vor: Wenig bestimmt die Welt der Comics gerade so sehr wie die autobiographische Variante der Comics – wohin man schaut, alle erzählen von ihrem Leben. Etliche der besten Comics aus den vergangenen Jahren, angefangen bei Craig Thompsons sensationellem Band Blankets bis hin zu Manu Larcenets Reihe Der alltägliche Kampf oder dem jüngst erschienen Band Blaue Pillen von Frederik Peeters sind autobiographisch. Da fragt man sich: Haben die nichts anderes erlebt? Oder nichts anderes zu erzählen? Sind das vielleicht nur Freaks, diese Zeichner? Sie zeichnen drauf los, immer und immer wieder dasselbe, Leben hier und Leben da, als sei ihr persönliches Erleben die beste Geschichte überhaupt. Nur: Es passiert nichts. Nichts als das Leben, klar, das großartige, das tolle, mit seinen kleinen und großen Momenten des Glücks und Unglücks – aber dennoch: nichts. Warum zum Kuckuck sind diese Comics dann so schön, so erfolgreich noch obendrein? Es sind Geschichten, die so oder anders jeder erlebt hat, das macht diese Comics so schön, weil man sich darin vorkommt wie auf seltsam vertrauten Terrain: Man kennt diese fremde Leben nicht, aber es kommt einem so vor, als sei man schon einmal hier gewesen, und ein kleines Gefühl von wohliger Erinnerung schlägt im Gedächtnis Wellen, wie schön.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Ein Leben im Comic I: Erinnerungen einer Frau, gezeichnet von Anna Sommer Das ist ein ganz mieser Trick, der aber vortrefflich funktioniert, gerade bei Comics, die Erinnerung mit Bildern und Worten locken können. Gerade ist ein neuer Band der langen Reihe an autobiographischen Comics erschienen, „Die Wahrheit und andere Erfindungen“ von der Zeichnerin Anna Sommer, und natürlich funktioniert der Trick schon wieder: Da erzählt eine Frau davon, wie sie eine Frau wurde – wie sie als Kind Bauklötze an ihre Socken klebt, um auch Stöckelschuhe zu tragen, wie sie mit ihrer Freundin Klamotten probiert, Jungs im Ferienlager küsst, in die weite Welt der Erwachsenen mit ihrer Arbeit aufbricht und auch wie sie das erste Mal ihre Periode bekommt und diese vermaledeiten Tampons zu bedienen lernen muss. Das ist alles schön anzusehen und schön zu lesen, sogar die Tage und der Tampon-Kampf kommen einem bekannt vor, selbst wenn man das als Junge nie erlebt hat. So gut können autobiographische Comics funktionieren – sie wecken Erinnerungen, die man gar nicht hat. Das sagt viel über die Macht von gut gemachten Comics. Aber ein bisschen ernüchternd ist es auch. Es tut gut, dass jetzt im Frühjahr noch ein Comic erschienen ist, der ein autobiographischer ist und auch wieder nicht: „Sechshundertsechsundsiebzig Erscheinungen von Killoffer“ erzählt nämlich von der dunklen Seite des eigenen Lebens, von geheimen Gelüsten, verborgenen Wünschen, von Ängsten, Hass und Wut – kurz: von der ganzen Scheiße des eigenen Lebens. Das darf man so schreiben, man muss es so gar, weil Scheiße eine wichtige Rolle im Finale dieses Comics spielt. Der französische Künstler Patrice Killoffer zeichnet sich hier selbst, wie er gerade heimkommt, von einer Reise, vor deren Beginn er vergaß, sein Geschirr abzuspülen. Er ist noch wortgewaltig jetzt, das schmutzige Geschirr scheint ihm plötzlich wie eine tickende Zeitbombe, eine biologische Waffe, „wuchernd, im Maden-Mantel“. Wieder nicht geschafft, das Abspülen, scheiße, so denkt er fern von Zuhause – aber ist das Leben nicht irgendwie auch Scheiße? Während er die Welt durchquert, überlegt Killoffer, ob es nicht in Wahrheit die Erde ist, die uns durchquert, wenn wir in Paris von Tellern essen, die wir dann nicht abwaschen, um das verdaute bisschen Frankreich in Amerika oder sonst wo auf Reisen auszuscheiden, nur um wiederum ein Stückchen Amerika zu essen und „in Form von Scheiße nach Paris zu tragen.“ So denkt Killoffer, und wem es jetzt schon zuviel wird, der sei gewarnt: Er verpasst was – und ja, es wird noch schlimmer.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Ein Leben im Comic II: Erinnerungen eines Mann, gezeichnet von Patrice Killoffer Killoffers gezeichnetes Selbst nämlich verstummt nach und nach, die Worte gehen ihm verloren, er ist nun allein mit sich, er selbst ist sein eigener Gast in seinem Leben, und alle, alle sind sie da: das Arschloch Killoffer und der Frauenheld Killoffer und der Macho Killoffer und der Säufer und der Träumer und der Einsiedler – alle seine Selbsts. Sie feiern ein großes Fest in Killoffers Wohnung, mit Dosenbier und Zigarettenqualm, der wie Rauchwolken aus den Lagerfeuern eines Feldlagers über den Köpfen steht. Orgie? Oh ja! Es ist eine Egomanen-Feier mit nur einem einzigen Ego: Killoffer. Dann werden die Seiten jählings schwarz und alle Menschen Striche, nur noch Killoffer ist Killoffer, flirtend, saufend, pöbelnd, die Dämonen peitschen durch seinen Kopf, bis er mit einem Ständer an einem Lattenzaun entlang streift und von einer Vergewaltigung träumt, böse Phantasie – oder ist das echt? Man weiß es nicht, und Killoffer weiß es auch nicht, er flieht, nur weiter, schnell fort, nach Hause – und schon ist er wieder drin in der Party mit sich selbst, seine ganzen Ichs sind auch wieder da, die Flaschen und die Zigaretten schon bereit. Er versucht, ihnen Herr zu werden, vergebens. Er versucht zu fliehen, nicht möglich, jetzt drücken sie ihn aufs Bett, vergewaltigen, entmannen ihn, er flieht erneut, hinaus in die Welt, dann wieder nach Hause, wo alles in Blut und Scheiße versinkt. Das ist verstörend, das ist eklig, das ist großartig. Killoffer verwendet hier seitenweise keine einzige Sprechblase, für Worte ist kein Platz, was sollten sie auch sagen – und doch brüllen die Bilder: Hier zeichnet einer ohne Worte Schreie. Das ist Wahnsinn. In jeder Hinsicht. Wenn man es dann irgendwie geschafft hat zum Ende dieses wahnsinnigen Comics und wie erschlagen vor den Seiten hängt, dann weiß man zwei Dinge genau: Erstens: ab jetzt immer abspülen. Zweitens: Wenn einer kommt und sein Leben erzählen will – vielleicht mal zuhören. Warum eigentlich nicht? Hier kannst du eine Seite aus Killoffers Comic anschauen. ++++

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