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Unter der Motorhaube der Partei

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Angestrichen:
„Es geht darum, diesen Lernprozess, den wir jetzt durchmachen, zu dokumentieren, und das möglichst öffentlich.“

Wo steht das denn?
Genaugenommen steht das nirgends. Diesen Satz hat gestern Christopher Lauer von der Piratenpartei gesagt, auf der ersten Pressekonferenz nach den Wahlen in Berlin.

Was will er damit sagen?
Wir wissen, dass wir von manchen Dingen noch nicht so viel Ahnung haben. Aber das macht nichts, wir strengen uns jetzt ordentlich an, dann wird das schon. Und ihr könnt alle zuschauen.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Christopher Lauer, Pirat mit Lernauftrag

Was steckt dahinter?
Im Wahlkampf haben die Piraten nicht nur durch unkonventionelle Slogans auf sich aufmerksam gemacht, sondern auch durch mangelnde Kenntnis der Details der Berliner Landespolitik. Nach einem wenig gelungenen Auftritt des Berliner Spitzenkandidaten Andreas Baum im Fernsehen begannen die Leute sich zu fragen, wie er und seine Mitstreiter im Abgeordnetenhaus Entscheidungen treffen wollen, wenn ihnen das dazu nötige Hintergrundwissen fehlt.

Seit Sonntagabend ist klar, dass Baum und 14 andere Berliner Piraten am 27. Oktober ihre Sitze im Abgeordnetenhaus einnehmen werden. Worauf es beim Segeln in den unbekannten Gewässern des Parlaments ankommt, wissen sie noch nicht. Sie haben keine Ahnung, aus welcher Richtung der Wind dort bläst, wo Untiefen lauern, wo sie die geschützten Buchten zum Ankern suchen müssen. Das müssen sie in den kommenden Wochen alles noch lernen, und sie wissen, dass sie trotzdem noch Fehler machen werden.

Immerhin gehen die Piraten mit ihren Bildungslücken offen um. Sie haben sich ganz groß auf ihre Seeräuberflagge geschrieben, mehr Transparenz in die Politik zu bringen. Deshalb – und das hat Christopher Lauer mit dem oben angestrichenen Satz angekündigt – hat die Piratenfraktion am Tag nach der Wahl ein Blog eingerichtet. Dort wolle man „Erfahrungen und Erkenntnisse in dieser spannenden Zeit“ teilen, heißt es auf der Seite. Und weiter: „Ihr werdet miterleben können, wie unsere Fraktion und genauso dieser Blog wächst und gedeiht.“

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Man könnte das als ein geschicktes Ablenkungsmanöver der Piraten werten und sagen, dass sie ihr Unwissen kaschieren, indem sie gleich wieder auf ihr Lieblingsthema Transparenz und Bürgerbeteiligung kommen. Dagegen spricht allerdings gleich der zweite Blogeintrag.

Dort verlinkt die Fraktion auf das sogenannte Piratenpad. Dort kann jeder das Protokoll eines Treffens vom Montagabend nachlesen, mit vielen Tippfehlern, aber dafür offenbar ziemlich vollständig. Die Fraktion verteilt Aufgaben, bespricht, wo man sich über die zukünftigen Aufgaben informiert und wie eine Fraktion sich überhaupt laut Gesetz und Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses zu gründen hat – und sie diskutiert über viele Zeilen hinweg und zum Teil in recht heftiger Art und Weise, wie man das Gebot der Transparenz am besten umsetzen soll. Soll man solche Treffen als Livestream ins Netz übertragen? Sie aufnehmen und später geschnitten online stellen? Oder aufnehmen und transkribieren? Wenn ja, gibt es Teile des Gesprächs, die man lieber aussparen sollte? Über die Frage, wie gläsern die Fratkion sein muss, ist so etwas wie der erste Streit der frisch gewählten Piraten entbrannt.

Was der Leser hier erleben darf, ist der Fraktionswerdungsprozess einer Gruppe politischer Greenhorns. Das Spannende daran ist, dass man hier Politik tatsächlich mal von einer anderen Seite sieht als bei Tagesschau und Co. Keine vorgefertigten Reden und Statements, kein Zurschaustellen größter Solidarität und Harmonie vor Kameras, während man als Zuschauer eigentlich wissen möchte, was hinter den Türen passiert ist. Es ist, als könnte man beim Auto Piratenpartei die Motorhaube öffen, und sich genau anschauen, wie die Maschine läuft und wann vielleicht mal ein Zylinder aussetzt. Diese Herangehensweise an Politik könnte einer der wichtigsten Gründe sein, warum die Piraten so gut ankamen. Sie strahlen eine Unbedarftheit aus, mit der sie sich von den abgebrühten Politprofis der etablierten Parteien abheben. Wie schnell sich diese Unbedarftheit legen wird, wird man sehen. Wie viele Berliner sich überhaupt für den Lernprozess der Piraten interessieren, auch. In jedem Fall ist das, was hier entsteht, ein Archiv des Erwachsenwerdens einer neuen Partei.


Text: christian-helten - Fotos: dpa, Screenshot

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