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Viel wollen, wenig schaffen

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"It was some time after this that I took a long, soft look at my slapdash, half-arsed approach to life, and realised that I am an everythingist. This is a word I have invented to describe the sort of person who is greedy for the benefit of all new experiences, but unwilling to put the work in to fully commit to any of them."

Wo steht das? In einem Blogeintrag namens "I am everythingist - craving new experiences, but unwilling to put work in" der Autorin Sophie Heawood auf der Website des Guardian.

Und worum geht's? Vorausgesetzt, man kann sich mit der von Sophie Heawood ins Leben gerufenen Kategorie der „Everythingists" identifizieren: Um das ganze Elend des Lebens! Das in diesem Fall darin besteht, gleichzeitig unendlich wissens- und erlebnishungrig, unendlich perfektionistisch und narzisstisch, aber auch unendlich faul zu sein.

Heawood beginnt ihre Selbstanklageschrift mit einer Anekdote über die Begegnung mit einer Frau, die ihr erzählte, sie hätte ihrem Baby in der Schwangerschaft immer aus Dostojevsky-Romanen vorgelesen und sie tue es bis heute. Jedes Mal, wenn das Kind nun die russischen Namen höre, jauchze es angeblich vor Freude über den altbekannten Klang. Heawood, selbst gerade schwanger und vom intellektuellen Gehabe der Frau in neidvolle Unruhe versetzt, fuhr daraufhin aufgeregt nach Hause, überflog die Wikipedia-Zusammenfassung des Romans, suchte nach den russischen Namen und brüllte sie hektisch ihrem Bauch entgegen. Wohlwissend dass sie auf die Schnelle ohnehin keinen ganzen russischen Wälzer lesen würde, wollte sie ihrem Kind nun aber ebenfalls ein frühkindliches Erleben von Hochkultur ermöglichen.

Dieses Verhalten, merkte Heawood danach, war im Grunde exemplarisch für ihre gesamten gesamten Typ Mensch, der geplagt von einem unersättlichem Dauerbegehren tausend Dinge gleichzeitig beginnt, dabei keines richtig zu Ende bringt und sein Leben schließlich im Modus der steten Frustration über das eigene Ungenügen verbringt. Sie nennt ihn: "The Everythingist". 

Sie fährt dann mit einer Liste an Merkmalen fort, an denen man prüfen könne, ob man auch so jemand sei: Hat man zum Beispiel ständig das Handy in der Hand, einem „magischen Talisman" gleich, der immer den möglichen Kontakt zu etwas Anderem, Besserem verspricht? Ist man überhaupt in einer ständigen „FOMO", der ‚fear of missing out' gefangen und nicht in der Lage, sich auf einen Ort oder eine Situation völlig einzulassen, weil da noch so viele mögliche Orte wären, an denen man jetzt auch sein könnte und an denen man vielleicht noch glücklicher wäre? Kann man kein Buch zu Ende lesen, weil man längst zwei andere angefangen hat? Muss man im Job unbedingt Freelancer sein, weil man in seinem augeprägten Freiheitsbedürfnis auf all die vermeintlich traurigen, fremdbestimmten Büromenschen verächtlich herabschaut? Braucht man ständig die Gewissheit, dass man, wenn man wollte, sofort nach Rio de Janeiro auswandern könnte? Hängt man irgendwie in diesem ursprünglichen, narzisstisch-naiven Glauben fest, dass das eigene Leben wie von selbst einen märchenhaften Verlauf nehmen wird, nur weil man es sich eben so sehr wünscht und weil man heimlich doch vom eigenen Genie überzeugt ist? Hofft man unermüdlich darauf, doch noch einmal alles haben zu können?

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Hat man bei all diesen Fragen jetzt sehr oft genickt, ist die Sache klar. Aber was heißt das jetzt? Naja, nichts. Und das ist das Schöne an Heawoods Text. Er bietet keine Lösung und kein Heilmittel gegen das Leiden des „Everythingist". Wohl aber Trost, einzig durch das Angebot nicht allein darin gefangen zu sein. Dabei wirft sie das Leid des Alles-Wollers nicht „dem Leben" an sich vor oder macht es, was noch schlimmer wäre, ganz pauschal zum Leid einer bemitleidenswerten Generation. Im Gegenteil, sie lässt auch Raum für die, die nicht so sind. Und an einige von denen richtet sie gegen Ende des Textes das Wort. Vor allem an diejenigen, die sie sonst so gern als fremdbestimmte Pedanten beschimpft. Es täte ihr leid, dass sie sie immer nur als listenführende und pünktlichkeitsfanatische Langweiler belächelt habe, während sie immer wieder viel zu spät zu Verabredungen mit ihnen anrauschte, weil all ihre Hoffnungen und Träume ihr so sehr den Geist umnebelten, dass sie offenbar nicht einmal mehr den Busfahrplan lesen konnte.

Ihr würde erst allmählich klar, dass die ruhigeren Menschen im Grunde die viel größere Freiheit besäßen. Nämlich die, Dinge zu Ende zu bringen und nicht für immer zwischen lauter halbgelesenen Büchern, halbgeschriebenen Büchern und halberlebten Erlebnissen rumzueiern.

Und das ist das andere Schöne an Heawoods Text: Sie verkauft die eigene Unersättlichkeit nicht hintenrum doch noch als versteckte Prahlerei des eigenen vielseitigen, freien Wesens. Sondern gesteht sich ein, dass hinter ihrem propagierten Freigeist und ihrem Erlebnishunger gar nicht soviel echte Freiheit steckt. Sondern auch sehr viel Angst und Vermeidungsstrategie. 

Text: mercedes-lauenstein - Bild: photocase.com/ princessa

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