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China-Kolumne. Heute: Klassenfahrt und Militärübung

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Eine chinesische Grundschulfreundin von mir hat als Kind immer gesagt, dass sie schon zufrieden wäre, wenn sie an der Grenze zu Vietnam stehen würde und einmal den rechten Fuß „nach drüben“ halten könnte. Danach könne sie immerhin sagen, schon einmal im Ausland gewesen zu sein. Und noch in der Generation meiner Mutter hat kaum jemand in seiner Jugend meist kaum eine andere Provinz gesehen als die, in der man geboren wurde. Reisen ist in China ein relativ neues Phänomen – und ein wichtiges Statussymbol für die, die es sich mittlerweile leisten können. Kein Wunder also, dass sich Urlaub in erster Linie als Beschaffungstour von vorzeigbaren Souvenirfotos etabliert hat. Das gilt für Erinnerungsbilder aus Neuschwanstein oder vom Eiffelturm, aber ebenso für Sehenswürdigkeiten im dem eigenen Land. Es gibt in China eine handvoll beliebter Touristenziele, von denen es heißt, dass sie jeder einmal besucht haben sollte: Dazu gehören die Bergschluchten von Guilin, die Terrakottakrieger in Xi’an, das Weltnaturerbe Jiuzhaigou in Sichuan und die Hochplateaus in der Provinz Yunnan. Über die Touristen, die an diese Orte hinfahren, macht in China ein bekannter Witz die Runde. Er geht so: „In den Bus steigen – schlafen. Aus dem Bus steigen – pinkeln. Ankommen – Fotos knipsen. Nach Hause fahren – alles vergessen.“

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Der Witz beschreibt auch recht treffend, wie die meisten Chinesen fremde Gebiete zu erkunden pflegen: nämlich im sicheren Schoß durchorganisierter Pauschalreisen. Denn es geht dabei nicht um Erholung, sondern um das Abklappen von Sehenswürdigkeiten. Im Grunde ist es purer Stress mit Stundenplan, eine Mischung aus Klassenfahrt und Militärübung. In vielen abgelegenen Regionen ist eine regelrechte Tourismusmaschinerie entstanden. Überall schießen riesige Hotelanlagen aus dem Boden, in denen im Minutentakt Busse aus den Großstädten angebrummt kommen. Angeleitet werden solche Touren von Reiseleitern, die sich als Kindergärtner und General in Personalunion gerieren. Morgens stehen diese Reisegruppen um 6 Uhr auf, klemmen sich einen Anstecker vom Tourismusunternehmen ans Hemd und traben den restlichen Tag hinter der Fahne des Reiseführers her. Am Reiseziel angekommen, trifft man auf zehntausende andere, die das Gleiche vorhaben: ein Stück „unberührte Natur“ zu sehen. Aber auch die Gebiete, die in Prospekten als unberührt angepriesen werden, sind mittlerweile zu hermetisch abgeriegelten Disney-Lands geworden. Wer zum Beispiel die fünffarbigen Seen in Sichuan sehen will, muss erst ein Ticket einlösen und durch eine Eingangsschleuse gehen. Die Wanderwege in der Berglandschaft sind zubetoniert und mit Geländern geschützt, an den Wegrändern stehen Klohäuschen und Souvenirhändler. Täglich rauscht eine Trampelkolonne von Massentouristen durch einen derartigen Abenteuerpark. Übrig bleibt dann das Postkartenmotiv. Es ist traurig, aber wahr: Chinesen geben einen Haufen Geld aus (nichts ist in China so teuer wie das Reisen), um der Zivilisation zu entkommen und Orte aufzusuchen, an denen der Mensch noch keinen Schaden angerichtet hat. Sind sie dann mal an so einem Ort, schmeißen sie ihre Coladosen und Eisverpackungen wieder überall in die Landschaft. Wie daheim in der Stadt. Denn auch dort ist selten etwas aus der Vergangenheit erhalten. Und selbst wenn die jahrtausende alten Innenstädte noch existieren würden: man würde sie einzäunen und Eintritt verlangen.

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