Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

„Wurde die gleiche Empathie syrischen Flüchtlingen gewährt? Eher nicht.“

Foto: Michael Kappeler / dpa; Bearbeitung: jetzt

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Die gesamte Aufmerksamkeit der Welt scheint auf die Ukraine und die Bedrohung durch Putins Atomwaffen gerichtet zu sein. Aber neben dem allgegenwärtigen Informationsaustausch, Spendenaufrufen und Solidaritätsbekundungen wird in sozialen Medien auch immer wieder eben diese große Aufmerksamkeit kommentiert oder kritisiert. Das Argumente: Ja – was in der Ukraine passiert, ist schlimm. Aber auch anderswo leben Menschen in Todesangst und Elend. Die Empörung über Putins Angriffskrieg sei unverhältnismäßig und nur damit zu erklären, dass ein Unterschied gemacht würde zwischen europäischen Opfern und solchen in Syrien, Afghanistan oder dem Sudan. 

Wir haben Thomas Hanitzsch, Professor für Kommunikationswissenschaft an der LMU München, gefragt, ob da was dran ist:

jetzt: Herr Hanitzsch, gibt es eine Mitgefühls-Hierarchie, wenn es um globale Konflikte geht?

Thomas Hanitzsch: Ich würde sagen: leider ja. Wir finden jetzt eine Welle von Sympathie und Hilfsbereitschaft vor, die wir in anderen Konflikten so nicht sehen. Wird oder wurde die gleiche Empathie, die wir jetzt den betroffenen Ukrainer:innen entgegenbringen, syrischen Flüchtlingen gewährt? Eher nicht. 

Aber 2015 war die Solidarität für syrische Flüchtlinge doch auch riesig, oder nicht?

Das stimmt. Allerdings haben wir ja gesehen, dass die damalige „Willkommenskultur“ nicht von langer Dauer war. Zudem hat der russische Angriff auf die Ukraine ganz andere Schockwellen im politisch-medialen Diskurs erzeugt, die den Konflikt für uns weitaus bedeutsamer machen.

Warum?

Ein entscheidender Punkt ist natürlich, dass wir selbst und unsere Politik von diesem Konflikt unmittelbarer betroffen sind. Das erklärt meiner Meinung nach zu 80 Prozent, warum er viel stärker in der öffentlichen Wahrnehmung steht als andere. Die Taliban haben beispielsweise nicht mit Atomwaffen Nato-Länder bedroht. Sie sind weit weg und ich als Individuum habe keine Angst, dass mich der Konflikt in Afghanistan erreichen könnte. Von München aus kann ich aber mit dem Auto in neun bis zehn Stunden an der ukrainischen Grenze sein. Dadurch ist die Gefahr gleich viel weniger abstrakt.

„Sowas aktiviert bei uns tiefsitzende Narrative: David gegen Goliath“

Und die restlichen 20 Prozent?

Die kann man durch verschiedene Faktoren erklären. Zum einen marschiert hier eine Nation in die andere ein. Das ist, bei allen geopolitischen Feinheiten, viel einfacher verständlich als beispielsweise Konflikte in Afrika. Die sind sehr komplex, da muss man viel erklären. Und hier haben wir es mit einer Geschichte zu tun, die relativ Schwarz-Weiß ist. Es ist klar, wer das Opfer und wer der Aggressor ist. Sowas aktiviert bei uns tiefsitzende Narrative: David gegen Goliath. Der Kleine kämpft gegen den übermächtigen Großen. Diese Geschichte kennen wir und identifizieren uns intuitiv mit der Seite des Davids. 

Es gibt Berichte von afrikanischen Studierenden, die misshandelt und an der Ausreise aus der Ukraine nach Polen gehindert wurden, während Ukrainer:innen durchgewunken wurden. Fällt Menschen die Identifikation umso leichter, wenn der David aussieht wie sie?

Klar. Die Ukrainer sind halt Europäer und werden von der weißen deutschen Mehrheitsgesellschaft damit als „unsere Leute“ wahrgenommen. Da muss man noch nicht mal bis zu den Klitschkos, um verbindende Elemente zu finden. Geographische Nähe, ähnliche Kultur und ja, auch ähnliches Aussehen: Wir Menschen sind geneigt, denjenigen Menschen eher zu helfen, die so sind wie wir, wie unser „Stamm“. 

Nehmen vielleicht auch verschiedene Generationen die Krise verschieden wahr?

Ich würde sagen, es gibt zumindest einen Unterschied in der Wahrnehmung der Bedrohung. Bei denjenigen Menschen, die noch im Kalten Krieg sozialisiert wurden, wird natürlich an ganz bestimmten Saiten gezupft, wenn auf einmal eine atomare Bedrohung im Raum steht. Ich erinnere mich aus meiner Kindheit noch an Übungen für den Ernstfall. Das macht was mit Menschen. Da gibt es einen Wiedererkennungseffekt. Da kommt zum einen dieses Gefühl der Ungewissheit und Machtlosigkeit wieder auf, zum anderen weiß die ältere Generation auch, dass das zum Großteil reine Rhetorik ist. Drohgebärden, die uns aus der Fassung bringen sollen. Für Menschen, die das nicht mehr miterlebt haben, haben diese Drohgebärden vielleicht noch mehr Neuigkeitswert, können noch schlechter eingeschätzt werden. Weil das eigentlich etwas ist, von dem man geglaubt hat, es gehöre der Geschichte an.

Der Ukraine-Konflikt ist ja eigentlich nicht neu. Die Besetzung der Krim sorgte auch für einen Aufschrei – dann war sie für viele irgendwann Normalität.

Sicher, der Konflikt existiert nicht erst, seit Russland einmarschiert ist. Aber das ist eben eine Frage der Berichterstattung: Wenn es jetzt zu Friedensgesprächen kommt, die auch zu etwas führen, dann kann es gut sein, dass sich die Berichterstattung schneller als man es sich jetzt gerade noch vorstellen kann, wieder normalisiert und anderen Themen zuwendet. Krisengebiete, die im Moment völlig aus unserer Wahrnehmung verschwunden sind, könnten davon natürlich profitieren.

  • teilen
  • schließen