- • Startseite
- • Uni-Kolumne
-
•
Wie die Universität mich enttäuscht hat. Zum Beispiel Jan
Ich habe einen Freund, nennen wir ihn Jan. Jan trinkt sehr viel, verhält sich politisch nicht immer korrekt und bei seinen Frauengeschichten den Überblick zu behalten, fällt schwer. Eigentlich macht Jan Filme. Zumindest ab und zu. Meistens macht er aber etwas anderes, trinken beispielsweise, oder Frauengeschichten anfangen, oder er tut gar nichts. Ein Ort, an dem man ihn jedenfalls nie sieht, ist die Universität. Obwohl er da studiert. „Ja und?“ könnte man jetzt sagen, „natürlich sind Studenten nie an der Uni! Was sollen sie denn da? Das Studentenleben hat doch wirklich interessanteres zu bieten. Die meiste Zeit nicht an der Uni zu verbringen, hat sich für Studenten seit Jahrzenten als Lebensabschnittsgestaltung bestens bewährt.“ Ich habe genau das auch immer gesagt. Aber mittlerweile traue ich mich nicht mehr. Man macht sich nämlich Sorgen um Jan. Freunde sprechen in seiner Abwesenheit über seine Zukunft. Sie wollen ihm Praktika vermitteln. Sie wollen seine Hausarbeiten schreiben. Dann blicken sie mich meist vorwurfsvoll an, weil ich ihm noch kein Praktikum vermittelt und noch keine Hausarbeit geschrieben habe. Ich bin aber gar nicht auf solche Ideen gekommen, denn ich habe Jan immer bewundert.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Früher habe ich mir sogar alle Studenten vorgestellt wie ihn. Die Universität, dachte ich, sei ein Moloch aus Drogen, Sex und Nichtstun, der Rausch herrsche dort mit strenger Hand. Wer sich wie Jan all dem hingibt, der, dachte ich, brächte es vielleicht zum Genie, vielleicht auch nur zum lebergeschädigten Studienabbrecher. Aber jetzt merke ich:
Es sind gar nicht alle so wie Jan. Kaum jemand eigentlich. Jan ist mehr ein Fossil als ein Prototyp. Er ist ein Auslaufmodell. Wird nicht mehr hergestellt. Ein Dinosaurier. Ein promiskuitiver, betrunkener Dinosaurier. Jan und all die Menschen, die wie Jan sind, haben keinen Platz mehr an der Universität, obwohl sie doch kaum welchen brauchen, denn sie sind ja sowieso fast nie dort. An der Universität hängen jetzt McKinsey-Plakate. Da werden High-Potentials gesucht. Da soll jeder immer alles geben, was er hat. Die Herrschaft des Rausches wurde abgelöst, von einer Diktatur der Chance. „Ich weiß ja, ich vertue Chance um Chance, in meiner Warteschleife“, hat Jens Friebe, ehemaliger Student meiner Fakultät, einmal gesungen. „Doch muss man die Chance nicht auch mal als Gefahr begreifen?“ Muss man. Chancen sind etwas Schönes, aber je öfter und einmaliger sie sich mir darbieten und je länger ich über Jan nachdenke, desto mehr bekomme ich den Eindruck, dass Chancen mein Leben verwüsten. Ich lasse mich immer wieder einlullen von ihnen und ihrer gefährlichen, nüchternen Schönheit. Seit Wochen schiebe ich eine Arbeit vor mir her (wenigstens kann ich das noch, sie vor mir herschieben), aber statt zu sagen „Was soll’s? Abgabetermine! Wenn ich Wissenschaft betrieben will, ist es egal, bis wann ich das tue“ sage ich „Der Professor! Die Bewerbung für die Studienstiftung! Meine Zukunft!“ und gräme mich Tag für Tag. Jan würde sagen: „Studienstiftung? Da sind doch nur hässliche Frauen.“ Ich würde ihm so gerne recht geben.
Es ist nicht so, als hätte Jan keine Pläne. Er hat jede Menge. Nur meistens geht es dabei um Unterweltaktivitäten, hochgefährliche Sportwettkämpfe oder plötzlichen Weltruhm. Ich glaube, ich liege nicht falsch, wenn ich sage: Jan ist ein Mythos. Eine Legende. Einer von früher, einer wie es ihn heute gar nicht mehr gibt. Mehr Hunter S. Thompson als McKinsey. So einem besorgt man doch keinen Praktikumsplatz. So einer sammelt doch keine Credit Points. So einer studiert doch nicht nach Modulen! Neulich saß Jan nachts verzweifelt in der U-Bahn-Station und beklagte sich. Er hätte doch nichts in den Händen. Noch gar nichts geschafft. Zuerst habe ich gedacht, ich hätte mich vielleicht in ihm geirrt. Aber dann ist mir klar geworden, dass alle Jans irgendwann verzweifelt in der U-Bahn sitzen. Das ist bloß die andere Seite der Medaille. Deswegen ist die neue Universität der Chancendiktatur auch so verlockend: "Komm schon", flüstert sie uns ins Ohr. "Wenn du auf mich hörst, musst du nie wieder denken, du hättest nichts in deinen Händen!"
Wir sollten aber nicht auf sie hören.
Text: lars-weisbrod - Illustration: Eva Hillreiner