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Die Retter
Die ersten Senioren schlurfen über das Pflaster, noch fällt die Sonne flach und nur auf die höchsten Häuser und Türmchen. Der Straßenzug liegt im Schatten, die Bänke am Ufer des Kanals sind kalt. Gegenüber ein goldglänzendes Türschild auf rein-weißer Fassade, hohe Fenster, ein Balkon über dem Eingang, zwei Säulen rahmen die Glastüren ein: Dijver 11 – der Eingang zur Kaderschmiede der Europäischen Union.
Europas beste Studenten und Dozenten kommen hierher. Das College of Europe in Brügge, eine Stunde mit dem Zug von Brüssel entfernt, bildet Europas Manager von morgen aus, Topbeamte, die in ein paar Jahren die EU führen und gestalten wollen.
Die Glastüren schieben sich auf, im Foyer des Europacolleges lassen sich sieben Studenten in Ledersessel fallen. Vor ein paar Wochen haben sie hier mit dem Studium begonnen, es gibt viel zu besprechen. Sie tauschen sich über das Essen in der Mensa und die Einführungswoche aus – und darüber, wie es sich anfühlt, in einer der schwersten Krisen an Europas Zukunft zu denken. Die Frage ist, welche Perspektiven die künftigen Politiker, Manager und Diplomaten für die EU sehen – und für sich selbst. Und wie es ist, für ein Projekt zu arbeiten, das immer mehr Leute infrage stellen – und dessen Zukunft so ungewiss ist wie nie zuvor.
Es ist ein Sonntagmorgen im September, kurz nach neun. Emanuele Manigrassi, 25, aus Genua hat bis um vier Uhr früh gefeiert. Man denkt nicht immer an die Krise. Und natürlich bleibt trotz der vielen Kurse Zeit für Partys.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Die Treppe nach oben: Wer am College of Europe in Brügge studiert, befindet sich auf dem Weg in Richtung Spitzenpositionen der europäischen Union. Wo allerdings die EU steht, wenn die Studenten dort ankommen, kann heute keiner so genau sagen.
Emanuele belegt Verhandlungsführung und Verfassungsrecht auf Französisch, Umweltpolitik und EU-Erweiterung auf Englisch, dazu Seminare über Interessenvertretung in Brüssel und Wirtschaftsbeziehungen mit der Welt. Er macht den Master in Politik und Verwaltung. Er ist erst seit Kurzem am College in Belgien – wie die meisten hat er im September angefangen.
In zehn Monaten werden die Studenten einen Abschluss in Europäischem Recht, Wirtschaft, in Politik und Verwaltung oder Diplomatie machen. Das Studium ist zweisprachig, auf Englisch und Französisch, die Kurse finden regelmäßig samstags statt, manchmal auch sonntags. Weil das College of Europe kaum eigene Professoren beschäftigt, kommen die 160 Dozenten für die Vorlesungen aus ganz Europa eingeflogen. „Flying Faculty“, nannten das die Väter des Europacolleges.
Es wurde 1949 von einem spanischen Staatsmann gegründet, gleich nachdem die ersten Ideen von einem vereinigten Europa entstanden waren. Finanziert wird die Schule in großen Teilen von der EU, mehreren Mitgliedsländern und der Stadt Brügge. Der Gedanke war, eine Schule zu schaffen, an der Professoren und Studenten aus ganz Europa zusammen arbeiten, lernen und leben.
Emanuele Manigrassi wohnt in einer von sieben Residenzen; die Uni serviert dort Frühstück, Mittag- und Abendessen, stellt Handtücher und Bettwäsche und beschäftigt Mitarbeiter für den Haushalt.
Manchmal kreuzen sich ihre Wege nach ein paar Jahren wieder, in Brüssel, in Straßburg, vielleicht in Washington. Eine Jobgarantie gibt es zwar nicht, aber wer das College of Europe verlässt, hat sehr gute Chancen, bei der Europäischen Kommission, der Europäischen Zentralbank oder dem Gerichtshof unterzukommen. Helle Thorning-Schmidt, die Premierministerin Dänemarks, hat hier studiert, ebenso der Vizepremier Großbritanniens, Nick Clegg, der Präsident des Europäischen Gerichtshofs, der polnische und der luxemburgische Außenminister, ein Vizepräsident der Weltbank. Auf neun Seiten listet das Europacollege die Namen berühmter Absolventen auf.
In Deutschland kennen diese Uni nur wenige, sagt Michèle Kiermeier aus Süddeutschland. In anderen Ländern hingegen habe das College einen Ruf wie Oxford und Cambridge. Emanueles Freunde reagierten mit drei Fragen, als sie hörten, dass er dort studieren werde: was es koste, ob er jetzt zur Elite gehöre, warum er Bürokrat werde. Er antwortete: 22 000 Euro Studiengebühr. Und versuchte dann, das Klischee des steifen Beamten zurechtzurücken, die Vorstellung von Brüssel als Hauptstadt von Bürokratie, Krawatten, Absätzen und Akten auszubügeln, in der über der maximalen Länge von Schnullerketten, der Beschaffenheit von Traktorsitzen oder der Mindestgröße von Äpfeln gebrütet wird.
Gegen solche Vorurteile kämpfen hier alle. Teodora Rogo-zea aus Rumänien sagt: „Es ist ziemlich schwierig, den Leuten zu erklären, was die EU jeden Tag macht. Die EU ist nicht besonders gut im Marketing.“
Im Nebenraum des Foyers rattert die Kühlung des Getränkeautomaten. Dahinter, um zwei Ecken herum, beginnt der Flur mit den Pressspantüren zu den Klassenzimmern, Neonlicht spiegelt sich in den auf Hochglanz polierten Platten des Fußbodens. Hingen nicht die Porträts großer Europapolitiker an der Wand, könnte der Flur auch zu einem Krankenhaus oder einem Landratsamt gehören. Das College of Europe in Brügge ist kein Prunkbau, die Studenten hier streiten ab, zur Elite gehören. Natürlich sei die Aufnahmeprüfung anspruchsvoll, sagt Iulia Cozacenco aus Moldawien. „Aber jeder hat die gleichen Chancen.“ Damit jedes Land gerecht vertreten ist, gibt es eine Quotenregelung. Deutschland etwa schickt nur etwa dreißig Studenten. Ausgewählt werden sie von nationalen Komitees, meist vom Außenministerium, fast alle Studenten bekommen ein Stipendium. Voraussetzung sind aber oft Auslandserfahrung und Mehrsprachigkeit. Nicht jeder könne sich das leisten, räumt Iulia ein.
Viele Mitarbeiter, die auf den Bürofluren der EU unterwegs sind, kommen von Elite-schulen. Das lasse sich nicht vermeiden, sagen die Studenten. Der Wettbewerb treibt die Anforderungen nach oben. Damit wird gewöhnlichen Studenten der Zugang erschwert, die EU von einer kleinen Gruppe geführt. „Wir müssen aufpassen, dass wir nicht zu sehr in unserer eigenen Welt leben“, sagt deshalb Emanuele.
Wenn ihre Großeltern sagen, sie hätten für dreißig Mark eingekauft, dann würde Michèle Kiermeier am liebsten rufen: „Nicht Mark! Euro!“ Nur zwei Generationen liegen zwischen ihr und ihren Großeltern, doch in dieser Zeit hat sich die Welt geöffnet. Distanzen schrumpfen, Grenzen verwischen. Michèle und die meisten anderen Studenten am College of Europe kennen nur den Euro, sie rechnen nicht im Kopf in die alte Währung um. Sie kennen keine Staus an Grenzübergängen. Und keinen Krieg auf dem Kontinent.
Dieser Gedanke der unbegrenzten Möglichkeiten treibt sie an. Viele sind hier, weil sie an die europäische Idee glauben. Inzwischen gibt es auch Palästinenser und Chinesen, die sich dafür interessieren – der Traum strahlt über die Grenzen der EU-Mitglied-staaten hinaus.
Was aber, wenn diese Idee zerbricht? Die Studenten am College of Europe sagen, es brauche zwei Dinge: mehr Zusammenarbeit und mehr Zeit. Marion Zosi aus Frankreich macht ihren Master in Wirtschaft und erklärt: „Zuerst brauchen wir eine Banken-union, danach eine gemeinsame Wirtschaftspolitik, irgendwann eine politische Union.“ Für die Studenten am Europacollege hat die EU nur als starke Gemeinschaft eine Zukunft. Das aber braucht Zeit, und aus diesem Konflikt entsteht die Krise. Irgendwann aber werde es so weit sein, glaubt auch Marine Montejo aus Frankreich. „Dass wir das in unserer Karriere noch erleben, ist unwahrscheinlich“, sagt sie. „Aber wir arbeiten dran, die Einheit wird die Aufgabe unserer Generation.“ Bis es so weit ist, müsse man überlegt einen Schritt nach dem anderen machen. „Wir können zurzeit nicht das Beste tun, sondern nur das am wenigsten Schmerzvolle“, meint Marion. Das müsse man den Bürgern erklären. Wenn sie verstehen, was passiert, werde das Vertrauen wieder wachsen. Wenn die Studenten in einigen Jahren das Sagen haben, werden sie hier gebraucht, als Erklärer.
Richtig konkret klingt all das nicht. Angst, der Traum könnte zerplatzen und die Europäische Union auseinanderbrechen, hat aber keiner der Elitestudenten in Brügge. Da herrscht Einstimmigkeit. Marion Zosi meint, Europa sei ein so großes Projekt – wie ein Tanker, behäbig, aber unsinkbar. Sie sagt bloß: „Too big to fail.“
Text: benjamin-duerr - Text: Benjamin Dürr Fotos: Eudes de Santana