- • Startseite
- • Uni_und_Job
-
•
In der Blase
Opernsänger. Das war der Traumberuf von Tomas Kniuksta aus der litauischen Kleinstadt Klaipeda. Deshalb fing er an, Musik zu studieren. Dann kam ihm 2005 ein Erasmus-Semester in Spanien dazwischen – und plötzlich wollte er viel lieber dieses europäische Projekt voranbringen, als auf der Bühne Verdi singen. Der schlaksige 27-Jährige sitzt in der Kantine der Europäischen Kommission in Brüssel und isst Fleischbällchen mit Tomatensoße. „Ich bin ein totaler Fan von Erasmus und der europäischen Idee geworden. Als ich zurück an meine Uni kam, wurde ich dort bald Koordinator des Programms. Da habe ich die letzten Jahre gearbeitet, und deshalb war klar: In meinem Praktikum will ich genau hierher.“
Bildergalerie kann leider nicht angezeigt werden.
„Hierher“, das ist die Abteilung B1 in der Generaldirektion „Bildung“ der Europäischen Kommission in Brüssel. Tomas’ Abteilung koordiniert verschiedene Bildungsprogramme der Europäischen Union. Hier war er von März bis Ende Juli Praktikant. Nach einem Monat Sommerferien ist er jetzt wieder zurückgekehrt. Er hat einen Vertrag bekommen und vertritt eine Kollegin in Elternzeit. „Wenn man einmal drin ist in der Brüsseler Blase, dann kommt man da so schnell nicht mehr raus“, sagt Tomas und lächelt.
Ganz schön groß ist diese Blase mittlerweile: Allein bei der Europäischen Kommission arbeiten bis auf die Sommermonate durchgehend rund 700 Praktikanten. In der Verwaltung des Europäischen Parlaments sind es noch einmal 400. Dazu kommen unzählige junge Menschen, die in den Büros der Abgeordneten oder bei Lobbyverbänden arbeiten. Offizielle Zahlen dazu gibt es nicht. Aber in manchem der mehr als 700 Parlamentsbüros sitzen gleich mehrere Praktikanten neben den Assistenten der Abgeordneten. Die billigen Arbeitskräfte sind mittlerweile unersetzlich für das System Brüssel. Im Büro des deutschen EU-Abgeordneten Thomas Mann arbeiten immer mindestens zwei oder drei Praktikanten. „Manchmal sind es auch fünf“, sagt Mann. Manuel Rohnke ist einer von ihnen. Der 19-Jährige aus dem hessischen Schlüchtern ist Wiederholungstäter, er ist schon zum dritten Mal als Praktikant in Brüssel. Dafür hat er sich extra drei Anzüge gekauft und eine Krawattennadel mit seinen Initialen: MR.
Heute trägt er den grauen Anzug. Er sitzt in der Bar „Beer Factory“ am Place du Luxembourg direkt vor dem Europäischen Parlament und trinkt sein Feierabendbier. Der Platz, auf dem normalerweise Taxis und Busse Abgeordnete und Parlamentsangestellte ein- und ausladen, sieht aus wie das Gelände eines Sommerfestivals: Die Terrassen der Bars sind überfüllt. Die Gäste stehen bis auf die Straße mit Bier- oder Weingläsern in der Hand. Man begrüßt sich mit Küsschen auf die Wange. Die Kellner fragen auf Englisch nach den Wünschen der Gäste, die Bars heißen „London“ und „Fat Boy“. Drinnen läuft englischer Fußball auf riesigen Bildschirmen. Es fühlt sich an wie irgendwo in London oder Dublin. Das Einzige, was hier belgisch ist, ist das Bier. An der Kopfseite des Platzes steht der riesige Glasbau des Europäischen Parlaments. Bis in die Achtzigerjahre gab es hier eine kleine Brauerei und ein paar Künstlerateliers, aber für die EU-Bauten wurde alles abgerissen. Heute sind nur noch ein paar versprengte kleine Klinkerhäuschen zwischen den Glaspalästen übrig. Darin wohnen EU-Beamte und Abgeordnete. Die Mieten sind doppelt so hoch wie üblich auf dem Brüsseler Wohnungsmarkt. Einheimische verirren sich nur selten hierher. „Selbst diejenigen Eurokraten, die hier wohnen, gehen in ihre Wohnungen, als wären es Büros“, beschwert sich Paul Jamoulle, einer der wenigen belgischen Bewohner des Viertels. „Man weiß nie so recht, ob sie da sind. Sie leben zurückgezogen, beteiligen sich nicht am Leben im Viertel. Und weil es hier kaum noch Geschäfte gibt, ändert sich das auch nicht.“
Auf der Rasenfläche in der Mitte des Platzes haben sich mindestens 150 Anzug- und Kostümträger niedergelassen. Auch sie trinken Bier – aus Flaschen – und haben sich Chips und Oliven mitgebracht. Aperitif mitten im EU-Viertel. „Es ist jeden Donnerstag so, wenn das Wetter schön ist. Hier treffen sich alle Praktikanten, aber auch ein paar Abgeordnete und andere Leute, die in den Institutionen arbeiten“, sagt Manuel und nippt an seinem Bier. Es ist eine riesige Kontaktbörse und ein sicherer Ort in der unbekannten Stadt. Hier am Place du Luxembourg fühlt er sich wohl – unter seinesgleichen. Die Stadt Brüssel mag Manuel sonst nicht so recht. „Es ist dreckig, laut und unorganisiert.“ Er wohnt mit neun anderen Deutschen in einer WG am Nordbahnhof, mitten im Rotlichtviertel. Gleich will er noch seine Bürokollegen suchen. „Ich bleibe in deutschen Kreisen. Manchmal ist ein Österreicher dabei. Aber Belgier habe ich nicht kennengelernt. Ich weiß auch nicht, wo die sich verstecken.“ Am Wochenende ist er meistens mit anderen Praktikanten unterwegs. „Wir sind alle neu in der Stadt und kennen niemanden. Wir haben das gleiche Schicksal – das schweißt zusammen.“
So wie Manuel geht es den meisten, die auf Zeit in die belgische Hauptstadt kommen: Sie bleiben unter sich. „Es ist wie Erasmus mit Krawatte“, sagt Tomas, der mittlerweile auch zum Treffpunkt gekommen ist. Er steht auf der Rasenfläche und unterhält sich mit zwei blonden Britinnen.
Bei der EU-Kommission bewerben sich über 10 000 junge Menschen für knapp 700 Plätze
Neben Tomas auf dem Boden sitzt Ernesto Izquierdo und trinkt Rotwein aus einem Plastikbecher. Er ist ein Exot unter den Praktikanten, sagt er von sich selbst. Das liegt an seiner Nationalität: Ernesto ist als Mexikaner einer der ganz wenigen Praktikanten in der EU-Kommission, die nicht aus einem EU-Mitgliedstaat kommen. Aber auch sonst passt er nicht so recht zu den geschniegelten Kollegen mit seinem knallblauen Shirt und den Jeans. Ernesto will das Image der Kommissionspraktikanten verbessern, das Bild der trinkenden Meute auf dem Place du Luxembourg soll sich nicht zu tief einprägen: „Die Leute denken, wir machen die ganze Zeit Party. Dabei sind die meisten hoch qualifizierte Leute, die oftmals mehrere Masterabschlüsse haben und bis zu sieben Sprachen sprechen.“ Im Frühjahr hat Ernesto deshalb das Projekt „668“ gegründet. So viele Praktikanten waren es im vergangenen halben Jahr in der Europäischen Kommission. Er hat gemeinsam mit seinem Team Unternehmen, Verbände und Institutionen angeschrieben und ihnen seine Statistik zur Verfügung gestellt: 93 Prozent der Praktikanten haben mindestens einen Masterabschluss, 94 Prozent können bereits Berufserfahrung nachweisen, und 98 Prozent sprechen drei Sprachen oder mehr. Dazu gab es die Lebensläufe einiger Praktikanten. Knapp 50 Jobs konnte er so vermitteln.
Die Praktika in Brüssel sind begehrt. Für das zweite Halbjahr 2012 haben sich bei der EU-Kommission über 10 000 junge Menschen für knapp 700 Plätze beworben. Die Praktika sind mit 1000 Euro im Monat recht gut bezahlt, und die meisten Bewerber erhoffen sich davon bessere Chancen, in den EU-Institutionen einen Job zu finden. Aber das ist nicht so einfach. Tomas hatte Glück mit seiner Schwangerschaftsvertretung, aber Ende des Jahres läuft sein Vertrag aus. Ob er danach bleiben kann, ist mehr als fraglich. Feste Verträge bekommt nämlich nur, wer den „Concours“ besteht, eine Art Aufnahmeprüfung der Institutionen. Den gibt es nur alle paar Jahre, und die Kandidaten müssen sich nicht nur in ihrem Arbeitsfeld bestens auskennen, sondern auch ihre Sprach- und EU-Kenntnisse unter Beweis stellen.
Jeder arbeite viel und sei eigentlich nur zum Schlafen zu Hause
Eines haben wohl alle Praktikanten in Brüssel gemeinsam: Sie sind nach wie vor von der Europäischen Union überzeugt, Krise hin oder her. Tomas hält nichts davon, dass auch in seinem Land viele die EU schlecht- reden. Manche, erzählt er, vergleichen sie sogar mit der früheren Sowjetunion. „Wir sehen doch den Unterschied, seit wir der EU beigetreten sind. Ohne die EU hätten wir nichts. Dank dieser Gelder haben wir eine ordentliche Infrastruktur, Schulen, Straßen.“
Tomas macht sich auf den Heimweg. Er wohnt im selben Haus wie schon während seines Praktikums, zusammen mit einer Italienerin und einem Dänen, beides Praktikanten. Das Haus liegt in Matongé, dem afrikanischen Viertel Brüssels. Hier sind die Straßen dominiert von afrikanischen Frisörsalons und Lebensmittelgeschäften, die Süßkartoffeln und gesalzene Fische aus dem Senegal verkaufen. Tomas ist einer der wenigen Anzugträger hier. Mit seinen Mitbewohnern habe er nicht viel zu tun. Jeder arbeite viel und sei eigentlich nur zum Schlafen zu Hause – und zum Frühstücken. Das ist Tomas’ kleiner Luxus: In seiner Miete ist Frühstück inklusive. Zubereitet wird es von Marie-Luise, der Hausherrin. Die ältere Dame mit grauem Haar vermietet die ehemaligen Zimmer ihrer Kinder an Praktikanten: „Ich mag es, dass sie aus allen Ländern der EU kommen. Sie sind alle verschieden. Aber alle stehen an einem wichtigen Punkt in ihrem Leben: zwischen Studium und Beruf. Dabei möchte ich sie ein Stück begleiten.“ Also verwöhnt sie sie ein bisschen. Zum Frühstück gibt es frisch gepressten Orangensaft, Brötchen und mehrere Marmeladesorten. Ihre Mieter sollen sie nicht Marie-Luise nennen, sondern „Mamies“, was wie eine Mischung aus ihrem Namen und „Mami“ klingt. Sie gibt ihnen das, was sie in ihrem Praktikantenleben sonst vergeblich suchen: ein Stück Heimat in Brüssel.
Text: ruth-reichstein - Fotos: Tanja Kernweiss