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Studieren, allein

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Das Schönste an meinem Studium war das Gebäude. Das mag vielleicht tragisch klingen, ist es aber nicht, wenn man bedenkt, dass es ein herausragend schönes Gebäude war, in dem ich meine Seminare besucht, meine Klausuren geschrieben und meine Referate gehalten habe. Ein altes, kurfürstliches Schloss mit einem großen Park davor und mit riesigen Fenstern, durch die immer mehr Licht hereinzukommen schien, als draußen überhaupt vorhanden war. So ein Gebäude war das.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert


Leider war es auch sehr verwirrend. Dritter Stock war zum Beispiel nicht unbedingt gleich dritter Stock. Wenn man die falsche Treppe nahm, landete man unter Umständen in einem ganz anderen Flügel als geplant, und dann gab es keinen Durchgang in den anderen Teil. Man musste also wieder runter und die richtige Treppe suchen oder auf einen Wink des Schicksals hoffen, der einem einen geheimen Übergang in den anderen Gebäudeteil wies. Manchmal hatte ich das Gefühl, mich in Hogwarts zu befinden, wenn ich die Treppe, die ich beim letzten Mal genommen und die mich an den richtigen Zielort geführt hatte, einfach nicht mehr finden konnte. Oder wenn ich vor dem Lageplan des Hauptgebäudes stand und trotz aller Anstrengung nicht verstand, wie dieser eine Raum dort, bitte schön, zu erreichen sein sollte. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich im ersten Semester mindestens einmal ein Seminar nur geschwänzt habe, weil ich den Raum nicht finden konnte.

Dass ich mich im Unigebäude verirrte, lag nicht allein an meinem extrem schlechten Orientierungssinn, der mich sogar im eigenen Viertel immer wieder in die Irre führt. Es lag vor allem auch daran, dass ich ihn nicht mithilfe der Schwarmintelligenz ausgleichen konnte. An der Uni hat man nicht mehr den Pulk bekannter Mitschüler, an den man sich halten kann und in dem irgendeiner zum Schuljahresbeginn schon wissen wird, wo es langgeht. Jedes Semester standen auf dem Stundenplan neue Räume, in denen man mit neuen Menschen sitzen würde, die zu unterschiedlichen Zeiten und aus unterschiedlichen Rich­tungen, aus einem anderen Raum, dem Park oder von zu Hause dorthin kamen. Da war niemand, dem man hinterherlaufen konnte, zumindest die ersten drei oder vier Wochen nicht. Und manchmal auch für immer nicht.

Wenn ich an der Uni etwas gelernt habe, dann ist es das: mich allein zu verlaufen, allein wieder zurechtzufinden, allein anzukommen und allein wieder zu gehen. Und ich glaube, dass ich nicht die Einzige bin, sondern dass im besten Falle jeder an der Uni lernt, sein eigenes Ding zu machen: allein in der Pflichtvorlesung zu sitzen, ein Buch auf den Knien; sich im Seminar zu melden und zu widersprechen, ohne Rückhalt durch einen vertrauten Nebensitzer; sich scheinbar rettungslos in einem Hausarbeitsthema zu verrennen und niemanden zu haben, der das gleiche Thema bearbeitet und einem heraushelfen kann. All das ist ein bisschen wie verloren auf dem Treppenabsatz im dritten Stock stehen und merken, dass das ein anderer dritter Stock ist, als man dachte. Aber dann wuselt man sich durch und kommt doch noch irgendwo an. Findet den Raum beim nächsten Mal schneller, wählt das Hausarbeitsthema weiser, hat ein Gespür dafür bekommen, neben wem es sich gut sitzt.

Vielleicht war das Schönste an meinem Studium doch nicht das Gebäude. Sondern dieses Gefühl, dass am Ende alles hinhauen wird. Dass da immer irgendwo riesige Fenster sind, durch die Licht reinkommt.  


Text: nadja-schlueter - Bild: jaeschko: photocase.com

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