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Anfang des Jahres hat die Grafikdesignerin Jessica Hische aus New York einen Entscheidungsbaum online gestellt, der mit der Frage „Should I work for free?“ beginnt. Hische beschreibt Szenarien, die jeder Grafikdesigner kennt: Ein Freund, ein Unternehmen oder eine soziale Einrichtung melden sich und fragen um einen kleinen Gefallen, vielleicht um die Gestaltung einer Einladungskarte, einer Website oder eines Flyers. Geld soll es nicht geben, aber vielleicht ja weitere Aufträge und auf jeden Fall ganz viel Ehre. Und schon hockt der Grafikdesigner im Dilemma. Soll er für lau arbeiten? Auf shouldiworkforfree.com dekliniert Jessica Hische alle Optionen durch. Meistens antwortet sie mit einem klaren „No“. Ihre Übersicht ist eine Ansage an alle, die denken, nur weil jemand seinen Job gern macht, könne man ihn ausbeuten.

Viele Menschen haben den Link weitergegeben, offenbar finden nicht nur Grafiker die wesentlichen Fragen dahinter spannend. Was ist das eigene Können wert, wenn man gerade seinen Abschluss an einer Hochschule gemacht hat? Wie günstig darf man sich verkaufen? Ehe Frau Ocker und Frau Zimmermann dazu ein paar wichtige Sachen sagen, lohnt sich ein Blick in das Buch The Pleasures and Sorrows of Work, in dem der Philosoph Alain de Botton grundsätzliche Gedanken über das Wesen der Arbeit aufzeichnet. Er trifft zum Beispiel einen Maler, der jahrelang nichts anderes macht, als eine bestimmte Eiche zu malen. Der Maler studiert alle Einzelheiten: die Würmer am Boden, die sich durch die gefallenen Blätter fressen, oder das Licht, das sich jede Stunde anders in den Ästen bricht. Als nach langer Vorarbeit ein paar wenige Bilder des Malers fertig sind und in einer Galerie hängen, wundert sich Alain de Botton, wozu Menschen in der Lage sind. Der Mensch, stellt er fest, sei in der Lage, große Opfer zu bringen, bloß damit etwas entstehe, das anmutiger und schöner ist als der Mensch selbst. Der Philosoph bewundert den Maler für seine Arbeit und seine Ausdauer. Und doch bedauert er ihn. Der Eichenzeichner hat in den zwei Jahren seiner Arbeit vor dem Baum im Schnitt so viel Geld wie ein „erfolgloser Installateur“ verdient. Die Welt hält nicht immer einen fairen Gegenwert dafür bereit, wenn jemand etwas Wertvolles schafft oder einer Arbeit nachgeht, die ihn persönlich bereichert. Und da sind wir bei Irene Ocker.

Sie gehört seit 25 Jahren zum Hochschulteam der Arbeitsagentur Göttingen und berät vor allem Geistes- und Sozialwissenschaftler (sie nennt sie liebevoll „meine Geister“). Immer wieder muss sie zwischen der Leidenschaft für ein Fach und dem Wert dieser Leidenschaft auf dem Arbeitsmarkt vermitteln. „Viele Geister haben ihr Fach nicht nach Vermarktungsgesichtspunkten gewählt, sondern aus Interesse. Das unter­scheidet sie oft von Wirtschaftswissenschaftlern, und das ist auch sehr schön. Aber ein Romanist mit dem Schwerpunkt Französisch, der auch nach dem Abschluss noch zu mir kommt und unbedingt mit der Sprache arbeiten will, hat etwas übersehen. Die Sprache Französisch ist nur ein Mittel zur Arbeit. Der Romanist muss viel früher seinen Berufsnavigator einschalten und sich fragen: Wo will ich einmal die Sprache einsetzen? Im Marketing eines Unternehmens? Im Vertrieb? In der Erwachsenenbildung?“ Einmal kam ein Fremdsprachenphilologe in die Beratungsstelle, der während seines Studiums nicht ein einziges Mal im Ausland war. „Das wirft Fragen auf“, sagt Irene Ocker.

Blöd ist das schon. Aristoteles zum Beispiel definierte Arbeit als eine niedere Angelegenheit. Wer etwas auf sich hielt und es sich vor allem leisten konnte, hing den ganzen Tag nur rum und dachte nach. Irgendwann erhoben dann die ersten Christen ihre Stimme und behaupteten, dass nur jene in den Himmel kommen, die sich von früh bis spät plagen. Mit der Renaissance schließlich, so schreibt Alain de Botton, wurde ein neuer Gedanke populär. Die Menschen fragten sich zum ersten Mal, ob es nicht super wäre, wir würden bei der Arbeit auch noch Spaß haben. Noch heute hängen wir dieser Idee an. Wir sind eine Arbeitsgesellschaft, Arbeit bestimmt einen großen Teil unseres Lebens und unserer Zufriedenheit. Deshalb flehen die Berufsberater die Schüler so sehr an, sich ein Fach zu suchen, das ihnen entspricht. Deshalb bittet Frau Ocker die Studenten darum, den Kopf aus den Büchern zu heben und sich einen Weg in den Arbeitsmarkt zu überlegen. „Sie müssen schon früh im Studium einen roten Faden auslegen, an dem entlang sie studieren.“ Irene Ocker macht mit ihren Studenten Potenzialanalysen, in denen nicht nur steht, ob jemand mit Menschen zu tun haben will, sondern auch, ob jemand den Menschen lieber hilft, ihnen zuhört oder vor ihnen spricht. Dann macht sie sich gemeinsam mit den Studierenden auf die Suche nach einem Tätigkeitsfeld, auf das sie sich vorbereiten sollen. Wie? Die Antwort ist eine kleine Litanei von Tipps, die man aber nicht oft genug wiederholen kann, sagt Irene Ocker.

Die Beraterin verlangt „einschlägige Praktika“ bei möglichen Arbeitgebern. Mindestens sechs Wochen sollen sie dauern, und es macht auch nichts, wenn sie sich über zwei Semesterferien erstrecken. (Eine Aneinanderreihung verschiedenster Praktika sei nicht so gut.) Ocker betont den Wert von ehrenamtlichem Engagement, sie empfiehlt Fremdsprachen und Auslandsaufent­halte. Beharrlich zählt sie all diese Qualifikationen auf, die nur einem Zweck dienen: Sie machen wertvoll für den Arbeitgeber.

Stefanie Zimmermann verantwortet in Köln die Publikationen der Berufseinstiegsexperten vom Staufenbiel Institut. Sie spricht viel mit Unternehmen und mit Studenten und hat deshalb ein Gefühl dafür, was sich Arbeitgeber wünschen. Gerade berät sie ihre Nichte, die bald ihr Abiturzeugnis in der Hand hält und glaubt, dass man sein Studium vor allem superschnell durchziehen müsse, um in der Wirtschaft etwas wert zu sein. „Die haben in dem Alter schon Existenzängste“, erzählt Stefanie Zimmer­mann. „Sie sind sich noch nicht darüber im Klaren, was sie machen sollen. Einige nehmen aber trotzdem, weil sie Zeit sparen wollen, einfach ein Verlegenheitsstudium auf.“ Zimmermann klingt nachdenklich. Sie wundert sich, wie falsch die Annahmen darüber sind, wie man wertvoll wird. „Es ist einfach nicht wahr, dass man immer alles nur schnell durchziehen muss. Neulich habe ich einen Unternehmensberater interviewt. Er sagte, dass seine Beratung Menschen mit Persönlichkeit sucht. Diese Persönlichkeit muss man aber erst mal entwickeln.“ Zum Beleg zitiert Zimmermann aus einer Staufenbiel-Studie. Darin wird gefragt, nach welchen Kriterien Personalchefs einstellen. „Zu 96 Prozent sind den Personalern die Studienschwerpunkte wichtig. Mit 73 Prozent folgt auf Platz zwei die Examensnote und erst mit 68 Prozent kommt auf Platz drei die Studiendauer. Die haben durchaus Verständnis, wenn jemand länger braucht, weil er Praktika gemacht und wichtige Erfahrungen gesammelt hat.“ Das ist ein Satz, dem auch Irene Ocker ihren Segen gibt. „Unternehmen suchen keine Abschlüsse“, sagt sie. „Sie suchen Qualifikationen.“

Ganz prinzipiell ist über dem Arbeitsmarkt wieder die Sonne aufgegangen. Sie scheint zwar nicht in alle Branchen gleich hell, aber, sagt Stefanie Zimmermann: „Die Krise war vergangenes Jahr. 2011 kann man sehen, dass die Unternehmen mehr einstellen. Die Aussichten für die nächsten fünf Jahre sind noch besser.“ Angeblich werden bis 2015 in Deutschland sieben Millionen Fachkräfte gesucht. Das ist eine schöne, aber auch eine schwierige Info. Mit Fachkräften sind immer zuerst Ingenieure und Wirtschaftswissenschaftler gemeint, also jene Studenten, um die man sich meist keine Sorgen machen muss. Aber Irene Ocker ist Optimistin, und sie findet die Sonne schon sehr hell. „Wenn es den BWLern gut geht, geht es auch meinen Geistern gut“, sagt sie. Aber wie gut genau?

Wenn die Was-darf-ich-für-mich-verlangen?-Frage kommt, empfiehlt Irene Ocker, sich, je nach Stellenbeschreibung, an einem möglichen Jahresgehalt von 30.000 Euro brutto zu orientieren. Ingenieure bekommen ein bisschen mehr, manche Geister ein bisschen weniger. Die Zahl dient, so wie der Entscheidungsbaum der New Yorker Grafikdesignerin, der Orientierung. Irgendwann muss man schließlich, wenn man schon gegen Geld arbeiten will, auch eine Zahl nennen. Umsonstarbeit ist nämlich laut Jessica Hische nur in einem Fall in Ordnung: wenn sie für Mutti ist.

Text: peter-wagner - Illustration: Joanna Swistowski

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