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Wie du isst
Der gewöhnliche Zustand und Aufenthaltsort eines Pausenbrots? Vertrocknet und vergessen im Ranzen. Es gibt in der großen Pause nun mal vieles zu tun, und alles ist wichtiger als essen. Wir würden in der Schulzeit vermutlich verhungern, wenn nicht Mama jeden Tag wieder Vollkornbrot und Banane einwickeln, uns mittags und abends mit Tellern und Joghurts verfolgen oder immer genau dann etwas aus dem Kühlschrank zaubern würde, wenn wir gerade vor Hunger sterben. Die einzigen Lebensmittel, die uns in dieser Zeit interessieren, sind solche, die wir an einem Stock überm Lagerfeuer grillen können oder die uns nicht interessieren sollten: Gummizeug, Chips, Energy-Drinks. Das von Mama verhängte Essverbot für solche Dinge umgehen wir am Kiosk oder auf dem Weg ins Schullandheim mithilfe unseres Taschengeldes und lernen dann im Schulbus zwei elementare Regeln über das Essen. Erstens: Essen kann ein Statussymbol sein; davon zeugen die neidischen Blicke derjenigen, die keine giftgrünen „Supagums“ ergattern konnten. Zweitens: Was supagummäßig schmeckt, ist meist irgendwie nicht gut für uns – davon zeugt die Kotztüte, die wir nach Cola, Erdnussflips und Wackelpudding brauchen.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Einige Zeit später, wenn wir unsere nagelneue Selbstständigkeit und unsere frisch gewonnene Kontrolle über unser Zimmer, unsere Klamotten und politischen Ansichten schließlich auch auf unsere Nahrungsaufnahme ausgeweitet haben, beginnt, was der Soziologe Jean-Claude Kaufmann das „zweite Ernährungsleben“ nennt. Essen ist dann nicht mehr die unschuldige Nebenbei-Tätigkeit der Kindheit. Es wird zu einem Kampf, wenn wir zum Beispiel über das Zuviel oder das Zuwenig nachdenken. Es wird zur Lebensschule, wenn wir uns mit veganen oder Straight-X-Theorien beschäftigen. Es wird zum Geschäft, weil wir von der Werbung als Ziel auserkoren werden, und es ist natürlich auch Ausdruck unserer Loslösung von Mama und Papa: Die Essenszeiten binden uns nicht mehr, wir verlagern die Mahlzeiten erst in unser Zimmer und dann gleich nach außerhalb des Elternhauses. Der Döner nach Mitternacht ist dabei genauso Symbol unserer Autonomie wie die Fertigpizza – beide Essen sind eine Versicherung dafür, dass wir bei der Zubereitung auf niemanden angewiesen sind. Der Tisch, unter den wir eben noch unsere Füße strecken, der Eiche gewordene Mittelpunkt der Familienbindung, sieht uns jedenfalls kaum mehr. Noch weiter verändert sich unsere Nahrungsaufnahme, sobald wir ausgezogen sind.
Die Notwendigkeit, das Essen organisieren zu müssen, die verführerische Freiheit auf der einen, der Hunger auf der anderen Seite stellen uns vor eine nicht unerhebliche Aufgabe. Wir delegieren sie in den meisten Fällen erst mal – an die Mensa, an die improvisierte WG-Küche oder eben an das Fertigfutter, das wir kurz vor Ladenschluss noch auf das Band an der Supermarktkasse werfen: Toastbrot, Fischdose, Kräuterquark, Ravioli, Trauben-Rum-Schokolade – fertig ist die Brotzeit derjenigen, die zwar viel Energie verbrauchen, aber wenig Geld, wenig Küchenzubehör und wenig Lust auf eine Auseinandersetzung mit Essen haben. Genussvoll brechen wir lieber erst mal alle Regeln, die uns an das Essen daheim erinnern, picken wochenlang nur noch Dinge aus dem Kühlschrank direkt in den Mund, ernähren uns streng monothematisch oder essen ein halbes Jahr im Liegen.
Wir definieren uns in dieser Zeit nicht über unsere Ernährung, wir ordnen sie allen anderen wilden Belangen unter, sie muss, bitte schön, einfach, haltbar, sättigend, billig, immer verfügbar sein. Aber nur wenige bleiben lange auf diesem Nullniveau hängen. „Irgendwas irgendwann essen hat seine Grenzen“, kennzeichnet der Soziologe Kaufmann das Ende dieser Phase. Das merken wir selber. Auf einmal freuen wir uns, wenn wir in die Heimat fahren, auf das große Sonntagsessen, das uns als Kind so selbstverständlich war und jetzt so unendlich aufwendig erscheint. Wir kehren mit Rezepten zurück, mit ausrangierten Töpfen vielleicht und beginnen, jeder in seinem eigenen Tempo, die Treppe zu erklimmen, an deren Ende tatsächlich diese spießige Genusswelt steht, für die Gourmetkeller in die Kaufhäuser gebaut wurden, für die es Weinverkostungen, Kochshows und Sternerestaurants gibt. Die Liebe beschleunigt diese Entwicklung in manchen Fällen ungemein. Denn wir denken in einer Beziehung nicht nur an Sex und gemeinsames Ausflippen, sondern ziemlich bald auch an gemeinsames Essen.
Das romantische Abendessen mit Kerzenlicht mag uns wie eine kitschige Filmszene vorkommen, wenn wir anfangen, den ein oder anderen Samstagabend für die Bolognese-Schlacht mit der Liebsten frei zu halten. Aber es ändert nichts an dieser Tatsache: Auf einmal kochen wir für jemanden, und das auch noch gern. Wir versorgen nicht mehr nur uns, und wir versorgen uns nicht mehr nur mit dem Nötigsten. Es liegt uns etwas an der Erweiterung unserer Fähigkeiten, eventuell sogar am Vorhandensein von Servietten, und wir betreiben diese Fortschritte bis zu einem Grad, der uns von daheim bekannt vorkommt.
Mit dieser Bereitschaft sind wir ziemlich in der Essenswelt der Erwachsenen angekommen. Jetzt ändern sich Jahr für Jahr nur noch die Details. Wir rüsten auf, wir kaufen irgendwann zum ersten Mal frischen Fisch an der Fischtheke, verschenken Kochbücher und haben einen Lieblingswein. Wenn wir am Wochenende Freunde treffen, gehen wir nicht mehr zum Vorglühen ins WG-Zimmer, sondern beginnen wie selbstverständlich essen zu gehen oder einzuladen. Erst kommt uns das komisch vor, bald schon verwenden wir eine gewisse Energie darauf, für jeden Anlass ein passendes Restaurant zu kennen oder semiprofessionell zu kochen. Ohne es eigentlich zu bemerken, haben wir uns den Essensregeln unserer Eltern angeschlossen; oder, wie Jean-Claude Kaufmann schreibt: „Die in der Familie erlernten Regeln und Manieren sind (...) Orientierungspunkte, die das Leben leichter machen, indem sie den Rhythmen und dem Verhalten einen stabilen Rahmen geben.“
Nahrungsaufnahme wird jetzt, zu Beginn des Berufslebens, auch Inbegriff von Freizeit und Privatheit, und je weniger wir davon haben, desto mehr schätzen und überfrachten wir das Genießen. Damit immerhin können wir doch ziemlich gut ausdrücken, wie gut unsere individuelle Persönlichkeit gewürzt ist. Essen ist jetzt Belohnung, Status, Bei-sich-Sein, Ruhe und, ja, eben auch bald: Familienglück. Die einen werden sich von hier aus zu ehrgeizigen Küchenhalbgöttern entwickeln oder einen Lavasteingrill für ihre Einbauküche ordern. Andere werden glücklich genau das praktizieren, was sie früher verächtlich Hausmannskost genannt haben. Manche werden jeden Tag im Restaurant essen, manche jeden Tag ein Pausenbrot schmieren. Sie alle werden mindestens einmal gutes Essen als ihre Leidenschaft angeben. Es ist nicht die schlechteste Leidenschaft – schließlich wird sie uns bis ans Lebensende ernähren.
Dieser Text stammt aus der aktuellen jetzt-Uni&Job-Beilage in der Süddeutschen Zeitung
Text: max-scharnigg - Foto: Robin Kranz