Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben
Aus der ehemaligen jetzt-Community: Du liest einen Nutzertext aus unserem Archiv.

Hildesheimer Nachtfluch(t) - Unterwegs mit Nachtbussen, die kaum fahren, ins Nachtleben, das es kaum gibt

Text: Speed_Child_o_Mine
Dass es draußen heute Minustemperaturen hat, merkt man zum Beispiel daran, dass Imke hohe Stiefel und Strumpfhose zum Mini trägt. Nele hat ihr Untergeschoss ausnahmsweise etwas wärmer verpackt. Aber die Jeans ist schon ganz schön eng. Ihr Make Up und ihre Ohrringe glitzern fast so wie eine Discokugel. Die dick umschminkten Augen nicht.

„Immer nur Pasha, das langweilt manchmal irgendwie“, seufzt Nele. „Hier langweilt eigentlich eh alles. Aber sonst kann man ja kaum wo hingeh'n.“ Sie greift in ihre Jackentasche, zieht ein Fläschchen Discount-Wodka raus und kippt zwei Schlücke; einen für Imke, die den Kopf schüttelt und weiter an ihrem Alkopop nippt.

Die beiden sind an der Haltestelle 'Goldene Perle' in den Nachtbus 103 gestiegen. Waren die Hildesheimer bei der Namensgebung sarkastisch oder vermessen? Das fragt man sich hier oft.

„Ob dein Verehrer heut Nacht wieder da ist..?!“, foppt Imke Nele.

„Neiiin, bitte nicht. Letztes Mal hat er's ja gewagt,... kommt also her, voll hacke Mut angesoffen, und sagt tatsächlich so 'Hallo, ich bin der Lars', und ich so auf hysterisch 'Oohnein, aber das wollt ich doch gar nicht wissen..!' und lauf weg.“

Die beiden lachen. Jetzt nimmt Imke doch einen Schluck Wodka. Nele hat inzwischen eine SMS bekommen. „Ey, meine Cousine und die, die woll'n echt ins Alpenmax, Alter!“ Sie wirkt fast betroffen. „...Da würd ich nicht mal tot reingehen! Die lassen ja echt jeden rein. Nur notgeile Säcke treiben sich dort rum, da hilft nicht mal mein Pfefferspray. Frauen geh'n da nicht hin! Nur so dumme kleine Ischen, die's einfach nicht geschnallt haben... und dann wieder so alte Schabracken, die selbst für die Ü-30-Feten im Vier Linden zu schäbig sind. Die wollen's halt noch mal wissen oder so. So die Härte, ich war da nur einmal, und bin bestimmt dreimal begrapscht worden. Ich war so froh, dass ich da mit 'ner Gruppe war!“ - Wodkaschluck.

Der Bus hält am Dammtor, eine Horde Jugendlicher steigt ein. Aus jeder Jackentasche ragt eine Bierflasche oder Vergleichbares. Sofort setzt sich ein Handy mitsamt Besitzer in Szene (ein polyphoner Klingelton eines schon etwas älteren Chartstürmers, der keine Ambitionen hegte, politisch korrekt zu sein). Nele verdreht die Augen und macht eine Würg-Geste, während der Handybesitzer sich genüsslich viel Zeit lässt, um den Anruf anzunehmen: „Alter!... Nee, wir schau'n mal ins Pasha, ob da was los ist, sonst gehmer halt in' Campus. Und ihr?“

Die Mädchen mustern die Gruppe um den Telefonierer: „So wie die Assis rumlaufen, kommen die eh nicht ins Pasha. Ich mein, schau mal, Baseballmützen, fettige Haare, billige Klamotten. Nänä, 'du kummst hier net nei'.“

Der Bus erreicht die Schuhstraße, Knotenpunkt des öffentlichen Na(c)h(t)verkehrs - kurioserweise zwei Kilometer jenseits des Hauptbahnhofs. Aus den Nachbussen strömen die überwiegend jungen Leute auf die Straße, viele schwanken bereits, die einen Richtung Friesenstraße, die anderen Richtung Innenstadt. Sofort wird gepöbelt. Zwei junge Türken tauschen alphamännchenartige Handshakes aus, und verziehen sich dann unter bewusst auffälligen Schulterblicken zu einem Dritten in die nächste Häuserecke. Nele stöhnt: „Hildesheim, Ghettoheim.“

Sie und Imke stöckeln zu ihrer Clique. Sie fangen sofort an, mit dem wasserstoffblonden Mädel in rosa Steppweste zu schnattern. Die vier Jungs, die noch dazu gehören, stehen wortkarg etwas abseits und versuchen ihr Bier zu exen, so wie sie vor dem Weggehen offensichtlich schon ihr Haargel geext haben. Einer davon ist der Ex von Nele, das blonde Mädchen die Ex-Ex von Imkes jetzigem Freund, sowieso kennt in dieser Stadt jeder jeden, ob er nun will oder nicht. Das ist nicht nur so daher gesagt.

„Ey guckt mal da, ey!“, ruft einer der Jungen. Alle drehen sich zu dem Gothic-Pärchen, das in ihrem ambivalenten Verhältnis zu der Aufmerksamkeit, die es wegen seiner aufwändigen Aufmachung unweigerlich auf sich zieht, gleich noch ein bisschen finsterer als zuvor dreinblickt. Hinter nicht-vorgehaltener Hand reißen die anderen nicht-originelle Sprüche und einer der Jungs sagt: „Oh Gott, mit solchen spackt mein kleiner Bruder ja jetzt auch ab. Nur noch RockClub... und im Sommer willer aufs M'era Luna-Festival hier!“

Die Uhr zeigt 23.45 und die acht Nachtbusse, die links und rechts der Schuhstraße gewartet haben, fahren alle gleichzeitig ab. Nele deutet auf die digitale Anzeigetafel. 'Abfahrt in Minuten: 101 - 59 min, 102 - 59min, 103 - 59min, 104 - 59min'

„Ganz toll, wa?! Um viertel vor zwei fahr'n die Busse zum letzten Mal... Das mit dem Anrufsammeltaxi ist voll Verarsche! Aber Taxi muss, anders geht's nicht. Nachts zu mir nach Hause laufen... würd' ich hier nicht mal machen, wenn Sommer wär' und ich kein Geld dabei hätt'!“

Inzwischen haben alle ihre Flaschen leergetrunken und schlurfen Richtung Pasha. Zwei der Jungs spucken nahezu simultan auf die Straße, beziehungsweise die Stadt...










Mehr lesen — Aktuelles aus der jetzt-Redaktion: