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Liebe, Sex und Magersucht

Text: kirsten
Ihr Geheimnis ist wie eine Säure: je mehr sie es verstecken will, hinter 5 Schichten Kleidung, hinter Geschichten von der heilen Welt und dem lebensfrohen Mädchen, umso mehr frisst es sich von innen durch ihre schöne Fassade.

Hektisch zieht sie an ihrer Zigarette – der zehnten in der letzten halben Stunde.

Als ob sie daraus eine Lösung heraussaugen könnte.

Wie der sprichwörtliche letzte Strohhalm sieht es für ihn aus.



So schön sieht sie aus heute Abend, hat sich hübsch gemacht, für ihn, für diesen Abend.

Für ihr halbjähriges.

Ihr goldenes Haar fließt über die schmalen Schultern, genau wie an dem Abend, als er sie das erste Mal sah, in der Disco, tanzend, völlig versunken in Trance.

Wie eine Elfe, zart und ätherisch.



Ihr Teller steht fast unberührt auf dem Tisch, seit fast einer Stunde schon stochert sie darin herum.

Sorgfältig hat sie es vermieden, in seiner Gegenwart etwas zu sich nehmen zu müssen.

Sie will doch schön sein für ihn, will geliebt und bewundert werden.

Wenn sie isst, fühlt sie sich fett und hässlich, kann sich selbst nicht ansehen, den eigenen Anblick nicht ertragen.

Nein, so darf er sie auf keinen Fall sehen.

Sie liebt ihn doch, will ihn nicht verlieren.



Ein halbes Jahr lang Lügen, Ausreden, Absagen.

Komisch fand er es manchmal.

Was sie schon alles gegessen hatte, zu Hause, vor ihrem Treffen.

Wie viele Verwandte sie laufend zu Familienfesten einluden.

Die Geschichten über Salmonellenvergiftungen, Gastritis, Bauchschmerzen.

Wie viele Lebensmittel sie nicht verträgt oder nicht mag.

Gewundert hat er sich.

Hinterfragen wollte er es nie.

Er will sie ja nicht verärgern.

Er liebt sie doch, will sie nicht verlieren.



Lügen, verstecken, Geschichten erfinden.

Glauben, Wegschauen, Lieben.



Deshalb wird er sie irgendwann verlieren, das weiß er inzwischen.

Will ihr helfen, will, dass sie das Leben zusammen genießen können.

Sex hatten sie schon Monate nicht mehr.

Macht ja auch keinen Spaß, wenn man dabei immer den Bauch einziehen muss und dem anderen nicht in die Augen schauen kann.

Der Anblick des knochigen, eingefallenen Kinderkörpers unter ihm ist unerträglich für ihn.



Traurig blickt er sie an, mit großen Augen: „Lass mich dir helfen. Ich hab Angst dich zu verlieren.“

In ihr schreit es: Sag es! Vertrau ihm endlich!

Ihr Geheimnis ist wie eine Säure: je mehr sie es verstecken will, hinter 5 Schichten Kleidung, hinter Geschichten von der heilen Welt und dem lebensfrohen Mädchen, umso mehr frisst es sich von innen durch ihre schöne Fassade.



Sie will sich ihm öffnen, will preisgeben, was mit ihr los ist.

Aber in dem Moment, in dem sie beginnt zu erzählen, müsste sie es ja auch sich selbst eingestehen.

Dass das nicht normal ist, das mit ihrem Essverhalten.

Und allein der Gedanken an die Konsequenzen lässt sie würgen.

Sie kennt das ja, aus Dokumentationen, Aus Reportagen.

Fremdbestimmt, Nadeln im Arm, aufgezwungene Fressorgien.

Sie schaudert und zündet sich zittrig die nächste Zigarette an.



Nein, unmöglich, sie kann das nicht verraten. Was ist sie denn ohne ihre Sucht?

Nur noch eine weitere in der Masse der dicken, hässlichen, disziplinlosen Mädchen.



„Es ist nichts“, sagt sie, mit fester Stimme, und lächelt ihn an.

Tapfer nimmt sie die Gabel und schaufelt sich Nudeln in den Mund, würgt sie hinunter, ohne zu kauen, es nur schnell hinter sich bringen und seine Sorgen gleich mit runter schlucken.



Sie spürt, wie ihr Bauch unter der Kleidung überdimensional anschwillt, bis zum Bersten, fühlt, wie die jedes Gramm Kohlenhydrate und jeder Tropfen Fett aus der Soße ohne Zwischenstation sofort doppelt an ihren Beinen ansetzen.

Sie schluckt den letzten Bissen – und ihre Tränen – runter.



Jetzt bloß nicht kotzen.






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