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Haben wir über das Absurde gesiegt?

Text: giroly
Ein neuer Begriff prägt unsere Gesellschaft zu Anfang des 21. Jahrhunderts. Er bezeichnet die neue Generation der Ausgebeuteten. Das Proletariat wird abgelöst von dem Prekariat, welches schon Anfang der 80er in der französischen Soziologie ihren Platz gefunden hat.

Das Prekariat setzt sich zusammen aus Minijobbern, Dauerpraktikanten und modernen Tagelöhnern. Es sind diese Menschen aus unserer Gesellschaft, die wegen der Entsicherung des sozialen Lebens gezwungen sind eine befristete Beschäftigung anzunehmen. Sie steuern ein unbekanntes Ziel an. Die Träume, die sie einst in ihrem Leben hatten, schieben sie beiseite, um erst einmal einen Platz in dieser Gesellschaft zu finden. Aber diesen bekommen die Prekaritarier nicht. Man könnte sagen, dass sie parken, und irgendwann wieder weiter fahren.

Dieses schwer zu definierende Milieu spiegelt unsere heutigen Ängste wieder, denn die Prekarisierung kann jeden treffen. Der Verlust seines Arbeitsplatzes wird zunehmend größer in globalisierten Zeiten. Flexibilität ist das Zauberwort. Aber heute ist bzw. muss jeder flexibel sein. Der weltweite Arbeitsmarkt ist voller flexibler Männer und Frauen. Wer nicht nach seinem Schulabschluss schnell seine Zukunft plant, gerät unter den Kamm der Prekarisierung. Im Klartext: Man schwimmt in ungewissem Gewässer.

Das Leben erscheint dadurch sinnlos. Wofür leben wir denn? Ist es nicht um unsere Träume zu verwirklichen? Der Sinn des Lebens, unsere Berufung ist in der heutigen Zeit schwerer zu finden als früher, wo die Welt noch nicht so kompliziert war. Es ist das Absurde, was in uns herrscht. Eine Leere, die wir gewillt sind zu füllen. Aber womit?



Genau dies ist der Ausgangspunkt der gesamten Philosophie Camus'. Das Absurde ist für Camus nicht irgendein Begriff, den wir isoliert denken könnten, sondern es ist mehr ein Gefühl, das nur im Verhältnis Mensch-Welt bestehen bleibt. Der Mensch fühlt wie "fremd" alles ist, die Außenwelt und ihre Sinnlosigkeit bringt ihn, der stets nach Sinn strebt, zum Wahnsinn. Dabei macht das Absurde vor niemandem halt: "Das Absurde kann jeden beliebigen Menschen an jeder beliebigen Straßenecke anspringen". Für Camus besteht das Gefühl des Absurden also in der Entzweiung des sinnstrebenden Menschen und der sinnleeren Welt. Natürlich muss dabei beachtet werden, dass Camus' Gedankenwelt grundsätzlich das Spiegelbild seiner Zeit darstellt nämlich, die der totalitären Systeme in Deutschland und Russland. Es war gerade ihre instrumentalisierte Form der Erniedrigung der Menschen, die sie zu einer anonymen Nummer herabwürdigt haben. Die Mitte des 20 jhdt. verdeutlicht auf brutaler Weise die Absurdität im Leben. Nun aber, wo wir in stabilen Demokratien leben, sollte man glauben, dass wir der Absurdität etwas entgegenzuhalten haben. Diese Behauptung wird immer fragwürdiger. Camus' Philosophie ist aktueller denn je.



Aber keine Bange! Jetzt ist es zu spät



Das literarische Erbe Camus' beherbergt viele Beispiele des traurigen menschlichen Daseins. Es sind Charaktere, die immer nach ihrem Sinn suchen, aber nicht fündig werden. Sie sind die kleinen Sisyphuse, die der Menschheit als Exempel dienen sollen. Vielleicht auch als eine Art Warnung.

So auch Jean Baptiste Clamence, die Figur aus Camus' letzten Werk Der Fall. Er ist zweimal unter jeweils verschiedenen Vorraussetzungen einen Weg gegangen, der absolut sinnvoll sein sollte. Der erste, der ihm Halt zu geben vermochte, war der paradiesischer Idealität gewesen. Hier verkörperte Clamence Hilfsbereitschaft und Liebenswürdigkeit im Menschen. Als Advokat der Schwachen stellte er sich dar. Er selbst verlieh sich das Gefühl der Erhabenheit. Schließlich zerbrach seine Idealität, denn er unterließ seine Hilfeleistung bei einer jungen Dame, die sich von einer Brücke stürzte. Clamence ging weiter. Er hatte nicht einmal den Versuch unternommen sie zu retten. Er fing an zu erkennen, in welcher gespielten Wirklichkeit er selbst lebte. Seine Schuld gab ihm zu verstehen, dass seine ideale Wirklichkeit im Grunde nur ein Vorwand war, die anderen zu beherrschen. Seither bemühte er sich einen neuen Modus vivendi zu finden. Zuerst versuchte er es, indem er den anderen prüfend in den Blick nahm, ihn entlarvte, als allgemeines Gesetz menschlichen Handelns die Böswilligkeit bloßlegte. „Die einzige Gegenwehr besteht in der Bosheit. Die Leute beeilen sich dann, zu richten, um nicht selber gerichtet zu werden.“ Die einzige Lösung, die Clamence sieht, ist es Bußrichter zu werden. Er ist es, der nun dem Urteil der anderen zuvorkommt, indem er seine Schuld bekennt, aber dieses Schuldbekenntnis in eine Anklage umkehrt. „Wie berauschend ist es doch, sich als Gott-Vater zu fühlen und unwiderrufliche Zeugnisse über schlechten Lebenswandel auszuteilen.“ Clamence hat sich somit mit Gott gleichgestellt. Er denkt somit kann er vor seinem absurden Dasein fliehen. Er hat sich selber zur Religion auserkoren, aber dies bleibt wie bei jeder Figur Camus' vergebens.

Auf der letzten Seite des Buches wirkt Clamence Weg nachvollziehend. „Aber keine Bange! Jetzt ist es zu spät, es wird immer zu spät sein. Zum Glück.“ Dieses Zitat impliziert seine Resignation über sein Dasein. Es ist ein Ausdruck seiner Verzweiflung und auch das er als kleiner Sisyphus, der Absurdität selbst noch einen Sinn abzugewinnen versucht. Die Welt die uns Camus in Der Fall zeigt, ist düster und über eine einsame Gestalt, die sich ihrer selbst nicht mehr gewiss ist.



Gott ist tot, so sind wir auf uns alleine gestellt



Seit Nietzsche wissen wir das Gott tot ist. Daraus folgt das wir Menschen ohne jemanden über uns zu haben, ohne Schöpfer und Lenker, wir uns auf dieser Welt befinden. Allein erhalten wir die Möglichkeit uns autonome Sinn- und Moralkonstruktionen zu bauen. Dies ist Folge der Leere die wir in uns spüren, die wiederum aus der Absurdität entsprungen ist. Diese Sinnkonstruktionen variieren, denn sie dienen „wahlweise als Flucht, Trost oder Revolte“, wie Matthias Sellmann in der Zeitschrift jugend & GESELLSCHAFT schreibt. Die Flucht vor der Anstrengung sein Leben mit seinen eigenen Händen zu formen, denn es bringt ja sowieso nichts. Der Trost, der sich in Konsumgüter oder das endlose Feiern am Wochenende widerspiegelt, um sich einfach keine Gedanken zu machen, wo man bleiben wird in zehn Jahren. Und schließlich die Revolte, die dem eigentlichen Ziel verfehlt, nämlich etwas an der kritisierten Situation zu verändern. Dies sind alle Möglichkeiten sich der antizipierenden Bewusstwerdung des Absurden zu entziehen.

Aber heute ist dies allgegenwärtig. Die Jugend versucht, genauso wie Clamence es in Der Fall tut, nach Lösungen bzw. Alternativen zu finden. Dieses Gefühl der Leere kann somit nur episodenhaft gefüllt werde. Sei es etwa in Naturbegegnungen, in virtuellen Medien oder in sexuellen Körpererfahrungen.

Somit haben wir über das Absurde noch lange nicht gesiegt. Mit der zunehmenden Prekarisierung und Ökonomisierung, hat das Absurde mehr Macht über uns gewonnen. Welchen Sinn hat es denn für uns eine Stelle anzunehmen die wir nicht ausstehen können bzw. nur eine gewisse Zeit haben werden?

Die Menschen heute vergessen sich selbst in der Hysterie der globalisierten Welt. Man will nicht zu dem Verlieren gehören. Man will aber zu den Gewinnern zählen. Aber wird das wirklich gewollt oder wird es nicht eher suggeriert? Der Mensch muss sich bewusst werden lassen ob es sich noch lohnt zu leben, ob es einen Sinn haben kann Mensch zu sein in einer Welt, wo er keinen Platz findet. In einer Welt, die sich vor ihn immer weiter entfernt, in der er nur als ein nichtiger Prekartiarer fungiert.

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