Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben
Aus der ehemaligen jetzt-Community: Du liest einen Nutzertext aus unserem Archiv.

Silvester ’91

Text: maar
Silvester ’91 sollte ich das erste Mal in meinem Leben eine eigene Silvesterparty feiern. Meine Eltern hatten mir erlaubt, Freundinnen einzuladen und in Absprache mit allen weiteren involvierten Eltern beschlossen, eine ganze Flasche Napoleon-Sekt kalt zu stellen, die wir dann später zu siebt würden köpfen dürfen. Mein Zimmer lag damals im ausgebauten Keller des Hauses, meine Eltern kamen einem also nicht in die Quere, außer, sie wollten es. Es gab eine Haustelefonverbindung, die sie immer nutzten, wenn sie nachfragen wollten, ob alles in Ordnung war.



Ich war total aufgeregt, meine erste Silvesterparty ohne Eltern also und mit Alkohol, das würde mein offizieller, mein elterngedeckter Start in die Jugend sein! Alle waren sie da, Anna, Kathrin, Julie, Claudia und Imke, vor allem aber meine etwas frühreife Freundin Anne, die ein Jahr zuvor aus der DDR übergewechselt war und nun die westliche Welt innerhalb von drei Monaten überholt und schon wieder weit hinter sich gelassen hatte, auf den Weg in eine seltsame neue Gesellschaftsform, in das Anne-Universum. Natürlich ließ auch Ende ’91 mein Style in Punkto Trash nichts zu wünschen übrig, ich lief in einem pastellfarben gemusterten Holzfällerhemd und frizzeligen Haaren durch die Gegend, Anne hingegen hatte eine blondierte Fönfrisur und trug dazu ein bauchfreies Top.



OK-Radio war damals in Hamburg die Verbindung von minderjährigen Jugendlichen in die Welt des anderen Geschlechts. Mit 13 war man noch so halbwüchsig, dass man nicht mal nach 22 Uhr in einer Bar hocken durfte, aber OK-Radio ermöglichte es jedem, im Sender anzurufen und beispielsweise folgende Texte zum Besten zu geben. „Hallo, hier sind Vicky und Jessica, wir machengerade ein gaaanz wilde Party (Sit-in) mit viiiel Alkohol (4cl kleiner Feigling), vielen Mädchen (zwei Stück) und totaaaaal guter Musik (internationale Hits ’90). Wir suchen noch nette Jungs, die Lust haben, mit uns zu feiern.“

Ich würde gerne wissen, was damals den Rechtsberatern von OK-Radio durch den Kopf schwirrte. Und auch, wie viele blutjunge Mädchen durch OK-Radio ihre Unschuld verloren.



Anne kam am Silvesterabend überraschend früh zu mir und hatte ganz rote Wangen vor Aufregung, sie quietschte durchgehend herum und ich freute mich, dass sie ähnlich aufgewühlt zu sein schien wegen der Party, wie ich, bis ich den wahren Grund für ihre Hysterie erfuhr. Es war bereits acht Uhr, wir saßen zu siebt im Schneidersitz auf dem Boden und spielten „Tat, Wahrheit oder Pflicht“, ich hatte schon ein Glas Orangensaft mit Milch und aufgeweichten Chips trinken müssen, als Anne heiser rief: „Mach mal OK-Radio an, mach mal OK-Radio an!!“ Ich schaltete OK-Radio an.



„Und auch heute Abend haben wir einen Partytipp für Euch, ganz Hamburg ist schon am feiern, und Anne ist auf einer besonderen Silvesterparty. Anne, erzähl doch mal, wo bist Du gerade?“ „Hallo OK-Radio, ich bin gerade in Hohenfelde und bereite eine riiiiesen Silvesterparty mit meinen besten Freundinnen vor, gacker, wir sind so dreizehn, vierzehn Jahre alt und suchen nämlich noch nach fünf bis zehn Jungs zwischen 15 und 18 Jahren, die Lust haben, hihi, mit uns zu feiern!“ „Aha, das hört sich doch gut an. Sollen die Jungs was mitbringen?“ „Ja, bringt doch was zu trinken mit, selbst gemachte Pizza gibt es hier. Ruft einfach bei OK-Radio an, hinterlasst dort Eure Nummer, kicher, und wir rufen dann zurück!, kreisch.“ „Suuuper Anne, dann wünsche ich Euch eine tolle Party, rutscht gut rein, aber nicht zu tief, haha, und redet bloß nicht zuviel über Sex, muaha, das übernehmen nämlich wir, hehe, jetzt spielen wir den Kracher schlechthin, zum Auflockern, „Let’s talk about sex“ voooon Salt’N’Pepa!“



Ich stand wie angewurzelt vor dem Radio, mein Zimmer und vor allem ich waren nicht auf Jungsbesuch vorbereitet und meine Eltern durften das mit den Kerlen unter keinen Umständen herausfinden. „Anne, das geht nicht, das kriegen doch meine Eltern raus, wir rufen einfach niemanden zurück, okay?“ sagte ich mit einem flehenden Unterton in der Stimme, aber Anne schüttelte den Kopf und erzählte, sie hätte meine Adresse schon längst an drei Leute weitergegeben, „und der eine hatte ja sooooo eine süüüüüße Stimme, ich glaub, ich bin voll verknallt!“



Und um neun Uhr stand tatsächlich eine Gruppe von acht besoffen grölenden Boys vor meinem Eingang, mit Apfelkorn, Baileys und Küstennebel bewaffnet. Sie hatten überwiegend lange zottelige Haare und Heavy Metal T-Shirts an, mit denen sie in krassen Gegensatz zu meinem mit Bravo-Starschnitts zu geklebten Zimmer standen.



„Wo isn hier die Riiiiiiiiiesenparty, ey, gröööööl, wir kommen extra vonner Fuhle, prost, glucker, rülps, hahahaha.“



Ich zischte alle an, sie sollten ruhig sein, weil es sonst gar keine Party heute Abend gäbe, wurschtelte sie in mein Zimmer, schloss die Tür und atmete tief durch. Klar, nun hatte ich meinen Ruf als Partybremse weg. Ich ordnete meine Haare und beschloss, meinen Eltern einen Besuch abzustatten, um auszumachen, ob sie bereits was gemerkt hatten. Hatten sie nicht, doch in Alarmbereitschaft waren sie schon längst versetzt, weil von unten lautes Quieken und Lachen hochdrang. Mein Zimmer lag direkt über dem Wohnzimmer meiner Eltern.

„Wir spielen gerade Tat oder Wahrheit.“ sagte ich verschwitzt, „Aber lasst ja die Weinflaschen in der Vorratskammer in Ruhe!“ beschwor mich meine Mutter, „Klar doch, bis morgen dann, guten Rutsch“ rief ich und ab gings nach unten in die Partyhölle. Die acht Typen hatten bereits das erste Blech Pizza gekillt und waren eifrig dabei „Gehirn“ herzustellen, Apfelkorn mit Baileys, mit Gerinngarantie.



Ich kam den ganzen Abend über nicht richtig zum Trinken, weil ich entweder damit beschäftigt war, die Heavy-Metal-Musik leiser zu stellen, Alkoholpfützen auf meinem Teppich zu beseitigen oder „Ruhe!“ zu raunzen. Zwischendrin klingelte immer wieder das Haustelefon, und dann kam mein „Psssst!“ zum Einsatz, als Zeichen für die Typen, ruhig zu sein, und für meine Freundinnen immer „Tat“ oder „Wahrheit“ zu rufen, während meine Eltern am anderen Ende der Leitung jedes Mal damit drohten, entweder gleich runter zu kommen oder die Sicherungen rauszudrehen.



Irgendwann knutschte Claudia mit Martin, einem blondzotteligen Hünen, auf meinem Bett, während Julie und der gelockte Nickelbrillenträger Nils fummelnd daneben auf dem Boden lagen. Wir anderen läuteten schließlich um Null Uhr das neue Jahr ein, indem wir mit „Schleim“, Küstennebel und Baileys, anstießen. Wir strömten auf die Straße, und Martin feuerte eine Rakete aus der Hand ab, war aber zu besoffen, um zu bemerken, dass seine Hand irreversible Schäden davon getragen hatte. Ich lief wieder rein, um meinen Eltern per Haustelefonat ein frohes neues Jahr zu wünschen, als ich vor meinem Zimmer auf meine Mutter traf. Panisch suchte ich daraufhin meine Freundinnen von der Straße zusammen, ließ die Jungs draußen stehen, mit dem Verweis, wir würden sie „später….äh…Dings!....“ (wieder reinlassen), und betrat fünf Minuten später mit den Mädchen mein Zimmer, in dem meine Mutter schon mit ungeduldigem Blick auf uns wartete. Sie wollte unbegreiflicher Weise „Tat, Wahrheit oder Pflicht“ mit uns spielen, wir konnten sie gerade noch zum Flaschendrehen überreden und so kam es, dass meine sechs Freundinnen und ich in der Neujahrsnacht ’92 an dem wohl langweiligsten Flaschendrehen, das auf dieser Welt jemals gespielt wurde, teilnahmen, obwohl wir alle mächtig einen im Tee hatten, während sich draußen acht ratlose Jungs den Arsch abfroren und zum Dank in den geliebten Vorgarten meiner Eltern pinkelten. Anne war über den Männerverlust todunglücklich, verkroch sich auf dem Klo, heulte mir die Ohren voll und erbrach sich dann von Küstennebel und Pizza in mein Waschbecken.



Meine Eltern beschlossen am nächsten Tag gemeinschaftlich mit allen anderen Eltern, die erlaubte Neujahrsdosis fürs nächste Jahr auf einen Piccolo runterzusetzen. Meine Mutter fragte mich außerdem, wer denn die Seifestückchen im Waschbecken in den Abfluss gedrückt hätte, es wäre eine äußerst schleimige und glitschige Angelegenheit gewesen, das dort wieder rauszuholen, außerdem könne man nun die Seife ja wohl wegschmeißen.



Anna hatte ein jahrelanges schmerzhaftes Techtelmechtel mit Nils, der am Ende aber doch eine japanische Buddhistin in Mümmelmannsberg heiratete, weswegen Anna sich Nils’ besten Freund schnappte, mit dem sie bis heute eine innige Freundschaft verbindet. Kathrin führte ihre erste und bislang einzige Beziehung zu Martin, der nun Hartz IV bezieht, weil er seine rechte Hand nur noch unter Schmerzen bewegen kann, da die transplantierte Haut an einigen Stellen immer noch zwickt. Anne heiratete vier Jahre später einen Gas-Wasser-Installateur, mit dem sie nach einem Jahr ein Kind bekam und von dem sie sich nach zwei Jahren wieder scheiden ließ.



Und der Rest der Mädchen, Claudia, Imke, Julie und ich, trifft sich seitdem immer in der ersten Januarwoche zum Seifestückchen-Gedenktag. Dann rätseln wir darüber, wie es möglich gewesen ist, dass meine Eltern wirklich nichts von dieser Party mitbekommen hatten, und danach wird zwar ohne OK-Radio, dafür aber mit der „Hits ’92“-CD, Apfelkorn, Baileys, Küstennebel und einer Flasche Napoleon-Sekt ordentlich die Sau rausgelassen.

Mehr lesen — Aktuelles aus der jetzt-Redaktion: