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Erste Lektion: Bremsen üben

Text: nora-reinhardt
Wenn selbst die Promis das hinkriegen – ein mutiger Selbstversuch im Eiskunstlauf





In der Mitte der Eisfläche übt ein Mädchen die „Sitzpirouette”. Ihre Haare fliegen. Sie dreht sich in der Hocke viermal um ihre eigene Achse, ein Bein balanciert sie ausgestreckt nach vorne, die Kufe kratzt auf dem Eis. Dann schraubt sie sich in den Stand zurück und gleitet nahtlos mit langen, eleganten Schritten weiter. Das Eis zischt.



Es ist acht Uhr am Morgen im Olympia-Eissportzentrum. Eine Hand voll eifriger Hobby-Eisläufer fährt kreuz und quer übers Eis. In den Morgenstunden ist hier „Publikumskürlauf”. Jeder kann kommen und üben. Manche haben sogar einen Trainer. Durch die kleinen Fenster im Eisstadion scheint Kaiserwetter in meine müden Augen hinein. Was bewegt Menschen, um sieben Uhr aufzustehen, nur um um acht Uhr die Kufenqueen oder den Kufenking zu mimen und dann in die Arbeit oder die Uni zu huschen?



Steffi Brandstätter heißt das Mädchen, das gerade die Sitzpirouette geübt hat. Sie studiert eigentlich Informatik und betreibt in ihrer Freizeit Eiskunstlauf im Verein. „Ich frag’ mich ehrlich gesagt auch manchmal, ob ich verrückt bin”, lächelt Steffi und übt weiter an ihrer Kür mit Flip, Rittberger und Co. . „Bei Hobby-Turnieren werden nur die einfachen, nicht die zwei- oder dreifachen Sprünge verlangt”, erklärt sie.



Erstmal langsam



An ein Turnier ist bei mir nicht zu denken. Aber das wird schon noch, denn heute ist meine allererste Trainerstunde. Das alljährliche Stolpern über den Nymphenburger Kanal soll diesen Winter besser aussehen und Gerda Ullmann soll mir dabei helfen – im Olympiazentrum kann man sich einen Privattrainer mieten. „Vergessen Sie ihre Handschuhe nicht!”, hatte mir Frau Ullmann am Telefon noch mit auf den Weg gegeben, doch es ist kälter als erwartet. „Ganz schön Eis” stand über der Eingangstür. Frau Ullmann macht die Kälte nichts aus, sie trägt einen taillierten, hellgelben Overall und einen weinroten Hut – ohne Stil geht natürlich nichts. Außerdem hat sie natürlich die Insignien eines Eislaufprofis: Fellüberzieher für die Schlittschuhe.



Ich schöpfe Hoffnung: Mit ein bisschen professioneller Anleitung wird doch auch bei mir was zu machen sein. Ein dreifacher Rittberger wird’s wohl nicht, aber vielleicht eine Standwaage, ein sogenannter „Flieger”? Oder eine Pirouette? „Können Sie denn bremsen?”, unterbricht Frau Ullmann meine Träumereien. Äh, nö. „So flott wie sie unterwegs sind, ist das ihre Lebensversicherung”, lacht sie. Also wird völlig glanzlos und jenseits von spektakulären Drehungen das Bremsen geübt. Ich schiebe meine Hüfte so weit vor, wie es nur geht, während ich meine Arme verkrampft nach rechts strecke. Eine wacklige Geschichte. Ob Kati Witt jemals Bremsen geübt hat? Und, was mich interessieren würde: Hat sie dabei gelächelt?



An mir fährt schneidig ein junger Mann vorbei, der gerade einen Sprung übt. Er fährt erst eine Schrittkombination, einen „Dreier”, wie Frau Ullmann mir erklärt, stößt sich dann vom Eis ab. Benjamin Wilkinson heißt er, nimmt seit zehn Jahren Unterricht und erst beim zweiten Hinsehen erkennt man, dass er das Down-Syndrom hat. Auf dem Eis sieht man keinen Unterschied, nur eben, dass er besser Schlittschuh fahren kann als die meisten. Von Müdigkeit keine Spur. Benjamin hat einige Pokale im Schrank stehen, den letzten von den „Special Olympics” 2004 in Wien. Vor Wettbewerben trainiert er zwei Mal die Woche, je zwei Stunden.



Pirouette! Pirouette!



Seine Mutter Maria Wilkinson ist eine zierliche Engländerin mit Perlenohrringen, die ihn immer begleitet und selbst auch Stunden nimmt. Michael Hopfes, der Trainer der beiden, ruft Benjamin Tipps zu. Hopfes weiß, wie man trainiert: Er hat 2000 bei der Deutschen Meisterschaft die Silbermedaille gewonnen.



Ich bin immer noch weit von einer Silbermedaille entfernt, auch von der Bronzemedaille übrigens. Bremsen klappt nun immerhin. „Na dann wollen wir mal die Pirouette probieren, oder?”, lächelt Frau Ullmann. Herzklopfen! Gerda Ullmann hat immer illustre Beispiele zur Hand. Sie sagt Dinge wie: „Stellen sie sich vor, hier stünde eine Parkbank. Und es ist nur noch ein Platz frei. Sie mogeln sich grade noch mit ihrem Po an das freie Eckchen. Und jetzt stellen sie sich vor, sie blicken hier nach rechts in die Sonne.” Und wie durch ein Wunder mache ich mit dieser Anleitung alles richtig. Frau Ullmann gibt mir einen Schubs, ich versuche blitzschnell meine Füße zusammenzustellen, und ich drehe mich tatsächlich zweieinviertel Mal um die eigene Achse. Ich kann es nicht glauben: Eine richtige Pirouette! Von Leichtfüßigkeit keine Spur – aber eine Pirouette.



Alexandra Martl kann meine Glücksgefühle nachvollziehen. Sie ist eine der vielen Eislauf-Fans hier: „Meine Kollegen halten mich alle für verrückt. Die ziehen mich nur auf, wenn ich wieder mit blauen Flecken ins Büro gehumpelt komme. Aber während die noch müde sind, bin ich schon topfit. Während meines Geschichte-Studiums bin ich sogar jeden Morgen hergekommen, Eiskunstlaufen ist halt eine Sucht.” Das kann ich jetzt nur bestätigen. Mehr Pirouetten.



Um zehn Uhr muss ich meine Schlittschuhe wieder einpacken, ab dann ist in der Trainingshalle Seniorensport. Eine rüstige Siebzigjährige mit Dutt schnürt sich ihre klassischen weißen Schuhe und fragt mich: „Ach, sie waren heute schon auf dem Eis?” Ich nicke. „Tüchtigtüchtig!” Na und wie. In meiner Sporttasche nehm ich das gute Gefühl mit nach Hause, bei der nächsten Eiskunstlauf-Übertragung den Blick des Insiders zu haben.








Ganz schön rutschig – Autorin Nora Reinhardt in ihrer eigenen Folge von „Stars on Ice”. Zwar noch ohne Rittberger, aber dafür mit Leidenschaft.

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