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Das Schisma von 1054 und die Spaltung Europas

Text: Sabotudo
Wenn aus heutiger Perspektive die kulturellen Unterschiede zwischen West- und Osteuropa beschrieben werden, so spielt dabei häufig das sogenannte Schisma von 1054 eine entscheidende Rolle. Die in jenem Jahr gegenseitig ausgesprochenen Bannsprüche des römischen Papstes Leo IX. auf der einen, sowie des Patriarchen von Konstantinopel Michael Kerullarios auf der anderen Seite gelten im Rückgriff als der entscheidende Bruch innerhalb der christlichen Welt, in dessen Folge der byzantinisch beherrschte Teil Europas sich endgültig dem Orient zugewandt und dadurch entscheidende zivilisatorische Prozesse, wie Aufklärung und Reformation, schlicht und ergreifend nicht mitgemacht habe.



Das Schisma von 1054 erscheint in diesem Zusammenhang als legitimierende Konstruktion, als nachträglich mit diversen Inhalten gefülltes punktuelles Ereignis, mit dessen Hilfe die Existenz und Sonderbarkeit des „orientalischen“, man könnte auch provozierend sagen „orientalistischen“, Europas als Konsequenz eines klar eingrenzbaren historischen Prozesses erklärt werden kann. Mitgedacht ist dabei zweifellos die Wahrnehmung, das hier etwas auseinandergeraten sei, was eigentlich zusammengehört: Das christliche Europa.

Dass allerdings die Postulierung einer „Einheit“ oder „Spaltung“ innerhalb der Christenheit letztendlich ausschließlich in der Wahrnehmung des Betrachters liegt, erschwert die Sache noch weiter. Fakt ist jedoch, dass die Zusammengehörigkeit der christlichen Glaubensgemeinschaft sowohl vor als auch nach 1054 eine der wichtigsten Prämissen aller Kirchen darstellt und bis in die heutige Zeit Gültigkeit besitzt.

Tatsächlich existierte nämlich bereits lange vor 1054 in vielen Bereichen der christlichen Kirche eine Vielzahl von Schismen gerade in liturgischen und theologischen Fragen, ohne dass dabei ernsthaft über eine Kirchenspaltung gesprochen worden wäre. Vielmehr hatte sich spätestens seit dem siebten Jahrhundert eine getrennte Entwicklung von Ost- und Westkirche mit jeweils relativ klar abgesteckten Einflusszonen herausgebildet, wobei die innere Heterogenität besonders zwischen den Ostkirchen noch viel komplexer war. Die armenische Kirche verfügte als eine der wahrscheinlich ältesten Christengemeinden über eine ganz eigene Liturgie, und die Missionierung der slawischen Stämme ab dem späten neunten Jahrhundert, angefangen vom Großmährischen Reich bis hin zur Kiever Rus’, vollzog sich zunächst unter Billigung des römischen Papstes mithilfe einer eigens dafür geschaffenen auf südslawischen Dialekten basierenden Schriftsprache. Die Heterogenität unter den verschiedenen christlichen Kirchen war folglich schon seit langer Zeit vorhanden, und offensichtlich musste sie auch nicht in jedem Fall ein Problem darstellen.



Zu bedenken ist jedoch, dass die Kirche in der mittelalterlichen Welt als der weltlichen Herrschaft gleichberechtigte geistliche Machtsphäre betrachtet wurde. Auf diese Weise gewann die Diskussion über liturgische und theologische Details immer auch die Dimension der Legitimation des eigenen absoluten Deutungs- und damit auch Herrschaftsanspruchs, denn „die Wahrheit“ konnte es im religiösen Sinne nur einmal geben. Der Streit von 1054 entbrannte folglich zunächst an kirchlichen Fragen und Glaubensauffassungen. Leo IX. forderte die umfassende Anerkennung der Vorherrschaft Roms innerhalb der fünf Patriarchate, neben Rom waren dies Konstantinopel, Antiochia, Jerusalem und Alexandria, was von den Ostkirchen nur im symbolischen Sinne gedeutet wurde. Michael Kerullarios seinerseits verlangte die Aufhebung der katholischen Filioque-Lehre, laut derer der Heilige Geist aus dem Vater und dem Sohn hervorgegangen sei, sowie die Reichung des liturgischen Abendmahls mit gesäuertem Altarbrot, und nicht, wie nach lateinischen Ritus üblich, mit ungesäuerten Oblaten, in denen der byzantinische Kirchenvater einen Rückfall zum Judentum sah.

Beide Kirchen hatten sich in den hundert Jahren zuvor verstärkt als machtpolitische Akteure ins Spiel gebracht. Konstantinopel hatte in der zweiten Hälfte des zehnten Jahrhunderts das Patriarchat von Antiochia der eigenen Einflussphäre unterworfen, 988 unterstellte sich die Kiever Rus’ der byzantinischen Kirche. Gleichzeitig setzte sich in Westeuropa das sogenannte Reformpapsttum mit dem Anspruch auf eine übergeordnete Stellung der geistlichen gegenüber der weltlichen Macht immer mehr durch und avancierte zum Schirmherrn auch militärisch geführter Auseinandersetzungen.

Tatsächlich nämlich war eines der wichtigsten Motive der Verhandlungen von 1054 die Bildung einer Union zwischen lateinischer und byzantinischer Kirche, um der für beide Seiten bedrohliche Expansion normannischer Heere Richtung Süditalien, wo sich zugleich die letzten byzantinischen Besitzungen Konstantinopels befanden, entgegentreten zu können. Letztendlich brachte eine solche Annäherung jedoch gleichzeitig die Notwendigkeit einer grundsätzlichen Neudefinition und Harmonisierung des Verhältnisses zwischen West- und Ostkirche. Dieses Vorhaben scheiterte jedoch an zwei sich gegenseitig ausschließenden kirchlichen Hierarchie- und Herrschaftskonzepten, und selbst die unmittelbare Bedrohung durch die Normanneneinfälle konnte hier keine wirkliche Bewegung schaffen. Wenn sich das Zerwürfnis letztendlich auch an theologischen Einzelfragen entzündete, so ging es doch letztendlich primär um politische Macht und die Kollision zweier für sich die religiöse Vorherrschaft für die christliche Welt in Anspruch nehmender Kirchen. Gleichzeitig zeigt die gegenseitige Kompromisslosigkeit allerdings auch, wie groß die geistige Distanz zueinander schon längst geworden war.



Das Schisma von 1054 war folglich auch nicht das entscheidende Ereignis für den Beginn der Kirchenspaltung, sondern lediglich eine Episode innerhalb einer sich bereits seit Jahrhunderten vollziehenden Entwicklung. Mit modernen Begriffen würde man den Konflikt von 1054 als diplomatischen Eklat bezeichnen, der zwar eine jahrelange Funkstille zwischen den Spitzen der beiden Kirchen nach sich zog, aber sonst in seiner Wirkung eher begrenzt blieb. Beide Seiten betonten denn auch, dass sich die gegenseitigen Bannsprüche nur einzelne Personen und nicht auf die jeweilige Glaubensgemeinschaft bezögen. Michael Kerullarios nahm schließlich sogar den 1054 bereits verstorbenen Leo IV. aus seinem Gegenbann aus und erklärte Arygyros, den mit ihm persönlichen verfeindeten byzantinischen Statthalter von Süditalien, zum Hauptverantwortlichen. Folglich wurde auch nicht die Spaltung der Christenheit festgestellt, sondern vielmehr einzelne Personen angeklagt, diese herbeiführen zu wollen.

Der Kontakt zwischen den Gläubigen wurde dadurch allerdings nachhaltig verändert. Der Pilgerverkehr floss in beide Richtungen wie gewohnt weiter, Eheverbindungen zwischen Angehörigen unterschiedlicher Kirchen und gemeinsam begangene Heiligenfeste waren weiterhin nichts ungewöhnliches.



Auch auf höherer Ebene wuchs zusehends die Bereitschaft zur Wiederaufnahme der gegenseitigen Kontakte, woran besonders Konstantinopel ein gesteigertes Interesse haben musste. 1059 war das mittlerweile von den Normannen eroberte Süditalien in ein Lehnverhältnis zu Rom übergegangen, womit die letzte byzantinische Bastion in Westeuropa gefallen war. Gleichzeitig machten die Normannen die Grenzen Konstantinopels im Balkan unsicher. Die Patriarchate von Alexandria, Antiochia und der Heiligen Stadt Jerusalem befanden sich in islamischer Hand, zudem waren weite Teile Kleinasiens von den Seldschuken, einem turksprachigen Reitervolk, überrannt worden. Das byzantinische Reich war existentiell vom Zerfall bedroht.

Auf der anderen Seite zeigte sich der seit 1088 regierende Papst Urban II. als entschiedener Anhänger der römisch-byzantinischen Verständigung, bereits im folgenden Jahr nach seiner Amtsübernahme nahm eine römische Delegation in Konstantinopel offiziell Kontakt mit dem byzantinischen Kaiser Alexios I. auf.

Auf einer Synode mit den Vertretern der Ostkirchen erbat Urban offiziell die Eintragung seiner Person in die sogenannten Diptychen, eine Art hölzerner Klapptafeln, in denen nach alter Tradition der Amtsantritt hoher Würdenträger verzeichnet wurde, was in erster Linie als symbolischer Akt zur Wiederherstellung der Einheit der christlichen Kirchen zu verstehen war.

Alexios I. kam dem Annäherungsversuch des Papstes freundlich entgegen, indem er feststellte, dass kein schriftliches Dokument vorliege, in welchem eine Kirchenspaltung verkündet werde, so dass der fehlende Eintrag in den Diptychen nur auf einen Irrtum zurückzuführen sein könne.

Man einigte sich schließlich auf einen Kompromiss, laut dem der Papst nach traditioneller Weise die Häupter der Ostkirchen von seiner Amtsübernahme unterrichten und sich zu den auf allen bisher gemeinsam abgehaltenen Synoden gefassten Beschlüssen bekennen sollte. Achtzehn Monate später sollten dann auf einem weiteren Konzil in Konstantinopel die theologischen und liturgischen Streitfragen aus der Welt geschafft werden.



Dazu ist es freilich nie gekommen, wobei man trotzdem Urbans Initiative deswegen nicht als vollkommen gescheitert ansehen sollte. Denkbar ist beispielsweise, dass nach der symbolischen Versöhnung zwischen Rom und den Ostkirchen durchaus die Gefahr eines neuen Zerwürfnisses wie 1054 gesehen wurde. Daher erschien es durchaus sinnvoll, einen offiziell provisorischen modus vivendi zu schaffen und die Besprechung der so viel Zündstoff bergenden kanonischen Fragen auf eine unbestimmte Zukunft zu verschieben. Wichtig war, dass Rom und Konstantinopel zu einer gemeinsamen Sprache fanden, und das war in begrenztem Rahmen sicherlich gelungen.

Alexios I. wiederum schien die Kontakte zur römischen Kirche in erster Linie nutzen zu wollen, um ein Sprachrohr zur Anwerbung fremdländischer Söldner zur Grenzsicherung zu haben, was im byzantinischen Reich seit Jahrhunderten eine gängige Praxis war. Das solch profane Fürbitten vor der römischen Kirche nicht ohne eine religiöse Begründung vorgebracht werden konnten, sollte für die folgende Entwicklung entscheidenden Einfluss haben.

Auf dem Konzil von Piacenza 1095 bat eine Gesandtschaft erstmals offiziell um militärische Hilfe, wie der Chronist Bernold von Konstanz berichtet:

„Ferner kam zu dieser Synode eine Gesandtschaft des Kaisers von Konstantinopel, der den Herren Papst und alle getreuen Christen anflehte, ihm einige Hilfe gegen die Heiden zur Verteidigung der Heiligen Kirche zu bringen, welche die Heiden in jenen Gebieten schon fast vernichtet hatten.“

Ob die byzantinischen Gesandten als „Heilige Kirche“ das eroberte Jerusalem oder das von Eroberung bedrohte Konstantinopel meinten oder vielleicht vielmehr an die Christenheit als Glaubenseinheit appellierten, ist nicht eindeutig feststellbar. Sicher ist nur, dass Urban II. das byzantinische Bittgesuch mit offenen Ohren aufnahm und wenige Monate später auf dem Konzil von Clermont vor einer großen Menschenmenge zum Kreuzzug für die Befreiung Jerusalems aufrief.

Davon, dass Urban in irgendeiner Weise vorausgeahnt hat, welche nachhaltigen Folgen seine Predigt haben würde, kann sicherlich nicht ausgegangen werden; wohl aber davon, dass die des Idee Kreuzzuges eng verknüpft war mit dem Traum von einer unter Führung der römischen Kirche vollzogenen Befreiung der muslimisch beherrschten Patriarchate. Dabei kann die symbolische Bedeutung Jerusalems als Ursprung des Christentums nicht zu hoch bewertet werden: Wer die Quelle des Glaubens in seiner Hand hatte, gewann dadurch automatisch den Führungsanspruch innerhalb der Christenheit.



Dass Urban den Kreuzzug losgetreten haben soll, um Konstantinopel einer direkten Herrschaft der römischen Kirche zu unterwerfen, ist hingegen höchst unwahrscheinlich. Die Geschehnisse im Folgenden zeigen, dass der Papst sehr schnell die Kontrolle über die sich in ganz Europa ausbreitende Kreuzzugsbewegung immer mehr an die großen Kriegsherren verlor. Er konnte nicht verhindern, dass die Kreuzfahrerheere mit Horden von Frauen, Alten und Kindern im Schlepptau auf dem Weg ins Heilige Land brandschatzend den Rhein bis nach Konstantinopel entlangzogen und einen prägenden Eindruck auf byzantinischer Seite hinterließen. In diesem Sinne war es erst diese Konfrontation zwischen Welten, welche mit der Eroberung und Plünderung Konstantinopels im Jahre 1204 ihren negativen Höhepunkt fand, die dazu führte, dass der lateinische und der byzantinische Teil Europas als zwei einander ausschließende kulturelle Pole empfunden wurden. Und diese Spaltung wirkt bis in die heutige Zeit.

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