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Glassonion meets Sommerhaus (14)

Text: sommerhaus
Zu spät





Kennen gelernt habe ich Thorsten vor ungefähr drei Jahren.



Und kurz danach erkannte ich, dass Bunker durchaus lebenswert sind.



Es fällt mir immer sehr schwer, Thorsten zu beschreiben. Ich weiß gar nicht so genau, warum das so ist. Denn alles an ihm ist unglaublich präsent. Und eigentlich dachte ich immer, ich wäre gut darin, Menschen zu beschreiben. Seit ich Thorsten aber vor drei Jahren auf ziemlich dramatische Art und Weise kennen gelernt habe, bin ich mir nicht mehr ganz so sicher. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass ich seine unglaublich präsente Art erst auf den zweiten Blick erkannt habe.



Thorsten ist mein Unfallopfer Nummer vier.



Es lohnt sich eigentlich nicht, den Unfall näher auszuführen. Es war mal wieder alles sehr einfach, so einfach wie meine Unfälle immer sind. Ich stand mit meinem Auto an einer kleinen Kreuzung und in dem Moment, in dem ich losfahren wollte, war Thorsten plötzlich da. Und genauso schnell, wie er vorne auf meiner Motorhaube aufgetaucht war, genauso schnell war er auch wieder von ihr verschwunden. Ich erinnere mich, im ersten Moment konnte ich es nicht fassen. Einen Augenblick lang blieb ich völlig erstarrt hinter dem Lenkrad sitzen, dann schaltete mein Gehirn auf Automatismus und ich sprang aus dem Auto, bückte mich kurz, warf einen Blick unter die Vorderräder, atmete erleichtert auf, schlug die Tür zu und schaute dann vorsichtig um die Ecke.



Ich glaube, ich werde dieses Bild nie vergessen. Thorsten saß vor meinem Auto auf der Straße. Mit dem Rücken, er trug damals schon seinen heißgeliebten dunkelgrünen Parka, lehnte er an der Stoßstange meines schmutzigen alten VWs, die Beine hatte er von sich gestreckt und kein Laut war zu hören. Ich beugte mich langsam über ihn, hatte plötzlich Angst, weil es viel zu still war, als er ohne Vorwarnung die Hände vor sein Gesicht schlug und leise begann, irgendetwas vor sich hinzumurmeln. Ich verstand kein Wort und ich weiß noch, dass ich damals betete, er möge doch bitte jetzt nicht weinen. Alles nur das nicht.



So lernten Thorsten und ich uns kennen.



Später erzählte er mir, dass er doch ein bisschen geweint habe. Nicht, weil er sich verletzt hatte, das war nämlich nicht der Fall, dazu war mein Auto zu langsam und Thorsten zu schnell gewesen und auch nicht, weil sein heißgeliebter Parka beim Aufprall einen Riss bekommen hatte. Er weinte, weil sein damaliger Freund eine Stunde vorher mit ihm Schluss gemacht und er auf dem Weg von ihm nach Hause die ganze Zeit darüber nachgedacht hatte, wie er jetzt weiterleben solle. Alles sei damals so sinnlos gewesen, erzählte er, während wir auf seinem Sofa lagen, Vanillezigaretten rauchten und Gin Tonic tranken.



Ich glaube, insgeheim, auch wenn Thorsten es niemals zugeben würde, ist er mir dankbar, meine Nummer vier geworden zu sein.



Dramatische Erlebnisse können manchmal ganz gut relativieren.



Die Luft ist kalt und auf der Straße riecht es nach Rauch und Silvesterknallern. Ich stecke meine Hände in die Taschen meines Mantels, ziehe die Schultern ein wenig hoch, spüre ein undefinierbares Kribbeln in meinem Bauch und stelle dabei fest, dass mein Rock heute irgendwie zu kurz ist und finde das sehr seltsam. Gestern war er das nämlich noch nicht.



Lars geht neben mir. Ich habe ein bisschen Probleme, mit ihm mitzukommen. Er macht ziemlich große Schritte und offenbar war die Zugfahrt wohl etwas zu lang. Wie muss das wohl aussehen, überlege ich, während ich meinen Rock suche. Ein junger Mann, der von Zeit zu Zeit hochspringt und nach herabhängenden Ästen greift und eine junge Frau, die alle paar Meter unaufällig durch die Taschen ihres Mantels nach plötzlich verschwundenem Stoff kramt. Wie das perfekte Paar, das würde Thorsten sagen, wäre er jetzt hier, und dann würde er breit grinsen und mir einen weiteren Gin Tonic in die Hand drücken.



Wenn es kalt ist, dann fühlt man, dass man lächelt, schießt es mir durch den Kopf, das ist wirklich so.



Ich bleibe stehen, verstecke das Lächeln hinter meinem Schal, schaue Lars an.

„Wir sind da.“

Lars blickt hoch. „Hier ist es?“

Ich nicke.

„Hier?“

Ich nicke noch einmal.

„Ja, etwas ungewöhnlich, ich weiß, aber es passt zu Thorsten. Du wirst sehen“, antworte ich, vergesse endlich meinen Rock und überquere die Straße.



Ich habe ähnlich irritiert geschaut, wie Lars es jetzt tut, als ich das erste Mal Thorsten besucht habe.



Thorsten wohnt in einem Bunker.



Viele denken, dass Bunker kalt und feucht und dunkel sind. Aber das stimmt nicht. Jedenfalls in Thorstens Fall nicht. Irgendwann Anfang des neuen Jahrtausends hat ein Künstler den Bunker gekauft und umgebaut. Seitdem heißt er Kulturbunker und beherbergt auf vier Etagen die unterschiedlichsten Menschen. Alles Künstler natürlich, das ist Voraussetzung, möchte man gern einziehen, oder anders formuliert, zumindest verstehen sich alle, die dort wohnen als Künstler. Thorsten fällt ein wenig aus dem Rahmen. Er arbeitet als Synchronsprecher, aber als er bei der Wohnungsbesichtigung erwähnte, dass er schwul sei, wurde das als gleichberechtigt anerkannt. Von außen ist der Bunker nach wie vor unverkennbar ein Bunker, ein riesiger quadratischer Klotz mit grau-braunen fast anderthalb Meter dicken Wänden. Sobald man ihn aber betritt, macht er jedes Mal von Neuem sprachlos. Die Wohnungen sind ganze Landschaften, es gibt kaum Ecken oder Kanten, die riesigen Räume sind hell und freundlich, mit runden Fenstern und mit Balkonen, die sich um eine ganze Seite der Bunkeraußenwand ziehen. Überall stehen und hängen Kunstobjekte und im Erdgeschoss gibt es ein Café. Wenn man die Wohnungen betritt, durch die ovalen Türen, dann hat man das Gefühl, durch einen kurzen Tunnel zu gehen, aus einer hellen Höhle in eine andere helle Höhle. Steht man unten im Eingangsbereich und hebt den Kopf, dann hat man den Eindruck in einem einzigen großen hellen Raum zu stehen.

So fremd das alles klingt, so wunderbar lebt es sich dort.



Ich kann die White Stripes schon hören, als Lars und ich vor der großen grauen Stahltür stehen. Ich drücke auf den Knopf neben Thorstens Namen. Ob sich Kate Moss beim Videodreh auch wohl etwas nackt gefühlt hat, überlege ich einen Moment und schiebe den Gedanken gleich wieder beiseite, wahrscheinlich nicht. Sie hat in dem Clip ja noch nicht mal einen Rock an. Da ist dann ja auch alles egal.



Ich spüre Lars neben mir, drehe mich zu ihm um. Er erscheint mir so viel gelöster, als noch vor einer Stunde. Und seine Augen sehen auch nicht mehr müde aus.



„Lars?“

„Ja?“



„Was Du vorhin sagtest, mit Silvester... Mir geht es übrigens auch so.“



Ich schaue kurz zu Boden, dann wieder hoch und in dem Augenblick, als die Tür aufgeht und Thorsten im Rahmen auftaucht, weiß ich, dass es zu spät ist.



Es ist passiert.



Ich bin verliebt.

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