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Sofies Welt

Text: michax
Solingen. Sonntagabend. Sofie hat mal wieder Langweile. So kommt es, dass der Besuch eines Zeitreisenden ihr willkommen ist. Soeben macht sie sich in der Küche ein Nutellabrot, als der alte Mann mit dem grauen Bart plötzlich vor ihr steht.

Sie: Sowas! Wer bist du denn?



Er: Sophokles ist mein Name.



Sie: Sollte mir das was sagen?



Er: Sollte es. Noch nie von Oedipus gehört? Antigone?



Sie: Sofie heiß ich. Nicht Antigone.



Er: Soso. … Ich meinte aber, ob du nicht die Meisterwerke des Dramas kennst. MEINE Meisterwerke. Die Ursprünge des Geschichten Erzählens: Oedipus. Antigone. Das sind die Namen der großen Stücke.



Sie: So leid es mir tut, aber … sagt mir nichts.



Er: Soweit ich weiß, lernt man das heute in der Schule.



Sie: So kann man sich irren. Willste ein Nutellabrot? Oder irgendwas anderes?



Er: Sodawasser. Das wäre sehr nett.



Sie: Sonst nichts? … Beim Trinken biste bescheidener als bei deinem Schreibkram. „Meisterwerke des Dramas.“ Angeber!



Er: So sagen es die Gelehrten. … Ich möchte dir gerne beschreiben, wie wundersam die Kraft des Erzählens ist: Du hast etwas beobachtet, was dir so wichtig erscheint, dass du es erzählen möchtest, obwohl du selbst daran nicht beteiligt warst – du bist ein Beobachter und schreibst ein …



Sie: Sonderbar. Irgendwie hab ich das Gefühl, du bist auch so ein alter Klugscheiß-Lehrer wie in diesem Buch mit dem ganzen Philosophie-Kack. Der kleinen Mädchen die Welt erklärt, als ob man ein Blödi wär.



Er: Solchergestalt sind meine Anliegen nicht. Ich erzähle nur Geschichten!



Sie: Soaps sind das, ja?



Er: Soaps?



Sie: Sowas hast du doch eben gesagt. Dramen. Wann werden die denn gezeigt?



Er: Soweit man das überschauen kann, jederzeit seit 2000 Jahren.



Sie: Solange schon? Wow. Ist ja länger als die „Lindenstraße“. Worum geht’s denn bei deiner Soap? Aber fass dich kurz. Gleich kommt was in der Glotze.



Er: Soviel Zeit muss aber sein. Man kann diese Juwelen der Dramatik nicht verstümmeln. Meine Geschichten müssen sich entfalten können in all ihrer Schönheit. Erst die Details …



So genervt hat man selten jemanden schauen sehen, wie Sofie in diesem Moment. Sophokles sieht das. Er hält inne.



Er: Soll ich zum Punkt kommen? … Gut. Also im Grunde geht es darum, dass Oedipus seinen Vater tötet und seine Mutter heiratet, natürlich ohne dass Oedipus weiß, dass es seine Eltern sind.



Sie: So’n Quatsch. Wie soll’n das gehen? Mal langsam: Also dieser Oedipus ist der …



Er: Sohn des Königs von Theben. Und dem König wird prophezeit, dass sein Sohn ihn einmal töten wird. Also setzt er Oedipus aus. Der wird aber gefunden, ohne seine wahre Herkunft zu kennen. Er wächst auf und eines Tages trifft er den König, bekommt Streit mit ihm und erschlägt ihn.



Sie: Somit ist die Vorhersage erfüllt. Verstehe. Und wieso heiratet er seine Mutter? Ist die nicht sauer. Er hat doch ihren Mann umgebracht.



Er: So gesehen stimmt das. Aber sie weiß weder, dass Oedipus ihren Mann getötet hat, noch dass er ihr eigener Sohn ist. Und das Schicksal nimmt seinen Lauf.



Sie: Solche Geschichten find ich echt total an den Haaren herbei gezogen. Als ob die alle blöd wären. Das ist doch voll auf Effekt. Am Ende steht dann einer unter der Dusche und hat alles nur geträumt. Oder wie geht’s aus? Wenigstens glücklich?



Sophokles schüttelt betreten den Kopf.



Sie: Sondern?



Er: Sondern es kommt alles raus. Der Vatermord, der Inzest. Daraufhin erhängt sich die Mutter und Oedipus sticht sich die Augen aus.



Sie: So’n Kack. Das ist ja voll depri! Und was heißt hier „Inzest“? Ficken die etwa?



Sophokles schweigt eingeschüchtert.



Sie: Sogar das? Die Mutter fickt mit ihrem Sohn? Bäh, das machen die ja selbst bei „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ nicht. Uäh. Du bist aber echt ein dirty old man.



Er: So knapp kann man das auch nicht erzählen. Es geht um so vieles mehr. Es geht um die menschliche Erkenntnisfähigkeit, darum, ob wir unserem Schicksal hilflos ausgeliefert sind oder …



Sie: Sokrates, halt mal kurz die Luft an.



Er: Sophokles.



Sie: Sophokles, von mir aus. Gleich geht meine Lieblingssendung los. Ich muss ins Wohnzimmer. War echt nett mit dir zu plaudern. Aber das ist mir zu brutal, dein Zeug. Also nix für ungut, findst sicher jemand anders, der da drauf steht.



Er: So war es bisher zumindest. Aber … es nähren sich Zweifel in mir nach dieser Kritik. Es hat dir wirklich nicht gefallen? Was würdest du denn anders machen?



Sie: Sonnenschein. Ein bisschen mehr Freude. Was Lustiges. Nicht nur Augen ausstechen und so’n Kram.



Er: Sonnenschein? Mh. … Gut, ich denk mal drüber nach. Und, mh, was ist das, was du dir jetzt anschauen möchtest?



Sie: Sopranos. Echt saugeil. Musste auch mal gucken. DAS ist Drama! Und witzig allemale.



Er: Sopranos? Und wieso ist das gut?



Sie: So halt.



Er: So?



Sie: So.



Er: So ...



So endet der Besuch von Sophokles bei Sofie in Solingen.

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