Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben
Aus der ehemaligen jetzt-Community: Du liest einen Nutzertext aus unserem Archiv.

Zeitmaschinen

Text: aldave
Unser Grundstück beherbergt eine ganze Batterie von Zeitmaschinen.

Heute habe ich wieder eine entdeckt, eine richtig gute. Ihre Potenz: Zehn Jahre.

Unsere Scheune sieht etwas fertig aus. Von mir hat sie einen neuen Anstrich bekommen, die Fassade gelb, eher Eierschale und die Balken und Riegel in ochsenblutrot.

Nun sprang mir einzig noch das Polyurethan-umkränzte Fenster in der rechten Scheunenhälfte entgegen. Es stach hässlich und blind aus der frischen Fläche heraus.

Von außen entfernte ich den bröslig gewordenen Bauschaum und reinigte die Scheiben, den Rahmen jedoch wollte ich von innen streichen.

Ich ging durchs Tor in das staubige Innere. Überall Umzugskisten (…nehmen wir beim nächsten Mal mit, ganz bestimmt!), Gartenmöbel, die dem Sommer entgegenwarten, Brennholz und Gerümpel. Ich steige die Treppe hoch, etwas zieht meinen Blick auf sich: auf Brettern des ehemaligen Partyraumes verwest ein riesiger Marder, buschig wie ein Stachelschwein, den Bauch mir zugewendet.

Ich wende mich ab von diesem ehemals schönen Tier, mache mir eine geistige Notiz: nachher mit Mistgabel wegtragen, Jäger zeigen, fragen.

Nun stehe ich vor der Türe der Zeitmaschine. Dem Zimmer meines Bruders. Hier hat er sich mit ungefähr sechzehn, gegen den ausdrücklichen Willen meiner Eltern, eine Art Wohnung gebaut. Mit Strom, Heizung, Telefon (der Grund, warum regelmäßig die Telefonanlage ausfiel), Teppichboden, Zimmerpflanzen, einem Schrank mit geheimer Tür, die wiederum in ein Zimmer führte und einem Scheckkarten gesteuerten Mechanismus. Hier kam die gesamte Mofajugend zusammen. Es wurde ferngesehn, Batida-Kirsch getrunken und Geburtstage gefeiert. Rauschend!

Hier stehe ich nun, in dem Raum, den ich früher heimlich betrat, wenn ich meinen Bruder weit fort wähnte. Genau wie heute drehte ich den Nagel im Schloss, nur um heimlich RTL oder Sat1 sehen zu können. Ich hoffte natürlich, irgendetwas in der Richtung Lilo Wanders erhaschen zu können. Wie ich angespannt vor dem Bildschirm saß, ängstlich versuchte die Reflektionen der Mattscheibe auf den Wänden abzuschirmen, und wie ich, mit bis zum Hals schlagenden Herzen, aus dem Zimmer rannte um ja nicht erwischt zu werden. Denn dies war das Zimmer meines großen Bruders, auf unerlaubtes Betreten stand mindestens das Herausziehen aller Fingernägel, oder Ähnliches. Ich stieg die Leiter in das alte Schlafzimmer hinauf. Der Boden war schwarz von Hornissenscheiße, die sich im vergangenen Sommer hier oben eingerichtet hatten. Sonst war alles wie vor Jahren: Auf dem Balken hinter dem Bett standen bunte Glasflaschen und Fotos. Darauf mein Bruder und Freundin, die Augen gegen die Sonne zugekniffen, ganz jung am Meeresstrand und an Hotelpools, Bilder von Autos und Freunden, die heute längst verheiratet sind.

Nur der riesige schwarze Hornissenschiss sagte mir: dies ist nicht 1998.

Es gibt noch mehr Zeitmaschinen. In unserem Haus genau zwei: der Dachboden, der ein Archiv meiner Unordnung zu sein scheint und ein Dachkämmerchen, das ich seit zwanzig Jahren nicht mehr betreten habe, niemand seither betreten hat. Es liegt so ungünstig unter der Dachschräge, es zieht sich so lang, dass es mich neulich einfach herausgefordert hat.

Ich kroch, mit Taschenlampe, an den seit Jahrzehnten gelagerten Zwetschgen, an Eimern voll Quarzsand und an Koffern und ausrangierten Yogamatten vorbei, nach ganz hinten.

Hier wurde ich direkt in das Jahr 1986 gebeamt. Das Haus war frisch gebaut und wir Kinder waren noch klein genug, um ohne Schmerzen in diese Dachkammer zu klettern: Aus dieser Zeit war noch das komplette Matratzenlager erhalten. Zwei kleinteilige Pferdehaarmatten, darüber ein seltsam rosagenopptes Tuch und ein Regälchen an der Wand auf dem ein halb heruntergebrannte Kerze stand. In den Ritzen zwischen den Matten: alte Donald Duck Comics: Ich kannte noch jedes Bild und jede Zeile, als hätte ich sie gerade ebn erst in den Ritzen versenkt.




Mehr lesen — Aktuelles aus der jetzt-Redaktion: