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Kundera

Text: monochromatisch
(Aus: Milan Kundera – Die Unerträgliche Leichtigkeit des Seins)



4.)

Warum ist für Teresa das Wort Idylle so wichtig?

Wir, die wir in der Mythologie des Alten Testamentes erzogen worden sind, könnten sagen, die Idylle sei ein Bild, das als Erinnerung an das Paradies in uns erhalten ist. Das Leben im Paradies glich nicht dem Verlauf einer Geraden, die uns in’s Unbekannte führte, es war kein Abenteuer. Es bewegte sich zwischen bekannten Dingen im Kreis. Seine Gleichförmigkeit war nicht Langeweile, sondern Glück.

Solange der Mensch noch auf dem Lande in der Natur lebte, umgeben von Haustieren, geborgen in den Jahreszeiten und deren Wechsel, war zumindest ein Widerschein der paradiesischen Idylle in ihm zurückgeblieben. Aus diesem Grund hatte Teresa, als sie den Vorsitzenden der Genossenschaft in dem Kurort traf, plötzlich das Bild eines ländlichen Dorfes vor Augen (eines Dorfes, in dem sie nie gelebt hatte und das sie nicht kannte) und war wie verzaubert. Es kam ihr vor, als schaute sie zurück auf das Paradies. Als Adam sich im Paradies über die Quelle beugte, wußte er nicht, daß das, was er sah, er selbst war. Er hätte Teresa nicht verstanden, die als Mädchen vor dem Spiegel stand und versuchte, durch den Körper hindurch die Seele zu sehen. Adam war wie Karenin (eine Hundedame, aufgrund ihres Aussehens Karenin genannt). Teresa amüsierte sich oft damit, daß sie ihn vor den Spiegel führte. Er erkannte sein Bild nicht und stand ihm ohne Interesse und ohne Aufmerksamkeit gegenüber.

Der Vergleich zwischen Karenin und Adam bringt mich auf den Gedanken, daß der Mensch im Paradies noch nicht Mensch war. Genauer gesagt: der Mensch war noch nicht auf die Bahn des Menschen geschleudert. Wir aber sind längst darauf geschleudert worden und fliegen durch die Leere der Zeit, die in einer Geraden abläuft. Doch existiert in uns immer noch eine dünne Schnur, die uns mit dem fernen, nebelhaften Paradies verbindet, wo Adam sich über die Quelle neigt und, im Gegensatz zu Narziß, nicht ahnt, daß dieser blaßgelbe Fleck, der im Wasser auftaucht, er selber ist. Die Sehnsucht nach dem Paradies ist das Verlangen des Menschen, nicht Mensch zu sein.

Wenn sie als kleines Mädchen die blutbefleckten Monatsbinden ihrer Mutter herumliegen sah, ekelte sie sich davor, und sie haßte die Mutter dafür, daß sie nicht soviel Schamgefühl hatte, diese Binden wegzuwerfen. Karenin aber, der ein Weibchen war, menstruierte ebenfalls. Einmal alle sechs Monate, vierzehn Tage lang. Damit er die Wohnung nicht verunreinigte legte Teresa ihm ein Stück Watte zwischen die Beine und zog ihm einen ihrer alten Slips an, den sie mit einem langen Band geschickt an seinem Köprper befestigte. Vierzehn Tage langf lachte sie über seinen Aufzug.

Wie kommt es, daß die Menstruation des Hundes in ihr Fröhlichkeit und Zärtlichkeit wachruft, während sie sich vor der eigenen Menstruation ekelt? Die Antwort scheint mir einfach: der Hund ist nie aus dem Paradies vertrieben worden. Karenin weiß nichts von der Dualität von Körper und Seele, und er weiß nicht, was Ekel ist. Deshalb fühlt sich Teresa in seiner Gesellschaft so wohl und ruhig. (und deshalb ist es so gefährlich, ein Tier in eine belebte Maschine, eine Kuh in einen Milchautomaten zu verwandeln: der Mensch schneidet auf diese Weise die Schnur durch, die ihn mit dem Paradies verbindet, und nichts wird ihn aufhalten, nichts wird ihn trösten können auf seinem Flug durch die Leere der Zeit.)

Aus diesem Gedankengewirr entsteht in Teresa eine blasphemische Idee, derer sie sich nicht erwehren kann: die Liebe, die sie mit Karenin verbindet, ist besser als die Liebe, die zwischen ihr und Tomas besteht. Besser, nicht etwa größer. Teresa will weder sich noch Tomas die Schuld geben, sie will nicht behaupten, sie könnten sich noch mehr liebhaben. Eher scheint es ihr so, das Menschenpaar sei so geschaffen, das seine Liebe a priori schlechter sei als (zumindest im besten Falle) die Liebe zwischen Mensch und Hund , diese Sonderbarkeit in der Geschichte dert Menschheit, die vom Schöpfer vermutlich nicht eingeplant war. Diese Liebe ist selbstlos: Teresa will nichts von Karenin. Nicht einmal Liebe fordert sie von ihm. Sie hat sich niemals die Fragen gestellt, von denen die Menschenpaare gequält werden: Liebt er mich? Hat er jemand anderen mehr geliebt als mich? Liebt er mich mehr, als ich ihn Liebe? Möglich, daß all’ diese Fragen, die sich um die Liebe drehen , sie messen, erforschen, untersuchen und verhören, sie auch schon im Keim ersticken. Möglich, daß wir nicht fähig sind zu lieben, gerade weil wir uns danach sehnen, geliebt zu werden, das heißt: weil wir vom Anderen etwas wollen (die Liebe), anstatt ohne Ansprüche auf ihn zuzugehen und nichts als seine Gegenwart zu wollen.

Und noch etwas: Teresa hat Karenin so akzeptiert, wie er ist, sie wollte ihn nicht nach ihrem Bild verändern, sie war von vornherein mit seiner Hundewelt einverstanden und wollte sie ihm nicht wegnehmen, sie war nicht eifersüchtig auf seine heimlichen Neigungen. Sie erzog ihn nicht, um ihn zu verändern, (wie ein Mann seine Frau und eine Frau ihren Mann verändern will), sondern nur, um ihm eine elementare Sprache beizubringen, die es ihnen ermöglicht, einander zu verstehen und miteinander zu leben.

Und dann: ihre Liebe zu dem Hund ist freiwillig, niemand hat sie dazu gezwungen. (Sie denkt einmal mehr an ihre Mutter und empfindet großes Bedauern: Wäre die Mutter eine unbekannte Frau aus dem Dorf gewesen, so hätte sie ihre fröhliche Derbheit vielleicht sympathisch gefunden! Ach, wäre die Mutter doch eine fremde Frau gewesen! Teresa hatte sich von Kindheit an dafür geschämt, daß die Mutter die Züge ihres eigenen Gesichts besetzt gehalten und ihr Ich enteignet hatte. Am schlimmsten aber war, daß das uralte Gebot: “Du sollst Vater und Mutter lieben!“ sie zwang, diese Okkupation zu billigen und und diese Aggression Liebe zu nennen! Es war nicht die Schuld der Mutter, daß Teresa mit ihr gebrochen hatte. Sie hatte nicht mit ihr gebrochen, weil die Mutter so war, wie sie war, sondern weil sie ihre Mutter war.) Und vor allem: kein Mensch kann einem anderen Menschen die Idylle zum Geschenk machen.

Das vermag nur ein Tier, weil es nicht aus dem Paradies vertrieben worden ist. Die Liebe zwischen Mensch und Tier ist idyllisch. Es ist eine Liebe ohne Konflikte, ohne herzzerreißende Szenen, ohne Entwicklung. Karenin umgab Teresa und Tomas, er war bei ihnen mit seinem Leben, das auf Wiederholung begründet war, und er erwartete von ihnen dasselbe.

Wäre Karenin ein Mensch gewesen und nicht ein Hund, hätte er sicher schon längst zu Teresa gesagt: „Hör’ ‚mal, es macht mir keinen Spaß mehr, jeden Tag ein Hörnchen in der Schnauze herumzutragen. Kannst Du dir nicht etwas Neues einfallen lassen?“ Dieser Satz enthält die ganze Verurteilung des Menschen. Die menschliche Zeit dreht sich nicht im Kreis, sie verläuft auf einer Geraden. Das ist der Grund, warum der Mensch nicht glücklich sein kann, denn Glück ist der Wunsch nach Wiederholung. Ja, Glück ist der Wunsch nach Wiederholung, sagte sich Teresa.

Wenn der Vorsitzende der Genossenschaft nach der Arbeit seinen Mephisto (ein zahmes Schwein) spazierenführte und Teresa traf, vergaß er nie zu sagen: „Frau Teresa! Warum habe ich ihn nicht schon früher kennengelernt? Wir wären den Mädchen gemeinsam nachgestiegen! Zwei Säuen kann gewiß keine Frau widerstehen!“ Er hatte sein Schwein so dressiert, daß es nach diesen Worten zu Grunzen anfing. Teresa lachte, obwohl sie vom ersten Augenblick an wußte, was der Vorsitzende sagen würde. Der Witz verlor in der Wiederholung nichts von seinem Reiz. Im Gegenteil. Im Kontext der Idylle ist selbst der Humor dem süßen Gesetz der Wiederholung untergeordnet.






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