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Ein Märchen vom Erwachsenwerden

Text: Ullige
Es war einmal ein Mädchen, das mir eine höchst interessante Geschichte erzählte, die mir immerhin wahr genug scheint, um sie euch zu berichten.

Dieses Mädchen war zumindest zu Beginn unserer Geschichte von eher bescheidener Natur. Es schminkte, telefonierte, kicherte und giggelte, stolzierte, quengelte, dachte nicht viel und gab sehr viel Geld aus. Zudem neigte es dazu andere die ernsthaften Dinge des Lebens für es erledigen zu lassen, was eine recht hässliche Angewohnheit ist. Doch an einem zunächst gewöhnlichen Sonntag, beginnt unsere eigentliche Geschichte.

Nun, zunächst gewöhnlich, weil er wie einer der vielen Sonntage im Leben dieses Mädchens begann. Das Leidvolle an den Sonntagen ist, dass die Geschäfte allesamt geschlossen sind, sodass dem Mädchen nicht viel bliebt, um sich abzulenken. So stand es wie so oft erst spät auf und pendelte zwischen Süßigkeitenschrank und Fernseher hin und her. Schließlich fasste es sich aber ein Herz und-… ging ins Badezimmer um zu maniküren, pediküren, pflegen, cremen, peelen und sich schließlich geraume Zeit im Spiegel zu betrachten. Und wie es da so stand, wurde es müde davon und stützte sich mit beiden Händen am Spiegel ab. Aber da geschah das, was diesen Sonntag keinen gewöhnlichen werden ließ. Im Schreck dachte das Mädchen zunächst der Spiegel würde nachgeben und von der Wand fallen, doch dann dachte es … erst einmal recht wenig. Tatsächlich war sein Kopf vor Schreck wie leergefegt. Der Spiegel war nämlich nicht von der Wand gefallen, sondern es war geradewegs durch ihn hindurchgefallen und es war nicht einmal, was schon verrückt genug gewesen wäre, im angrenzenden Zimmer gelandet, sondern in einer Welt wie sie wohl niemand von uns zuvor gesehen hatte, so merkwürdig war sie. Der Sturz des Mädchens wurde von einer Schicht weichen Mooses abfedert, doch wenn ich merkwürdig sage, so ist es das auch: Sobald sich das Mädchen aufgerappelt hatte, verschwand das Moos schon eifrig fiepend hinter dem nächsten Baum,… der sich kronenschüttelnd abwandte. Vor Furcht wie in Zeitlupe wandte es sich um und erblickte einen kleinen See. In regelmäßigen Abständen zogen sich weite Kreise über ihn, doch konnte es keine Steine entdecken, die hinein gefallen wären. Trotz der Wellen schien seine Oberfläche glatt und weich wie silbriger Samt. Am anderen Ufer erhob sich ein gewaltiges Schloss aus grauen Felsbrocken in den Himmel, der sich wie ein blaues Segel über die Szene spannte. Ein letzter Blick auf die Fangen spielenden Blumen entlang des Ufers, die Schlossmauern, die sich in gleichmäßigen Atemstößen zu heben und zu senken schienen und die Neugier des Mädchens siegte über seine Furcht. Entschlossen machte es sich zu den Toren des Schlosses auf.

War es erst einmal dort angelangt, öffneten sich die Pforten des Schlosses schon wie von Geisterhand, noch ehe das Mädchen die Hand heben konnte, um zu klopfen. So fand es sich in einem grauen, steinernen Gemäuer, erhellt von Krügen voller Glühwürmchen, die den Weg zu einer gegenüberliegenden Tür markierten. Kurz entschlossen öffnete das Mädchen die Tür und stand in einer Kammer, die keinen größeren Gegensatz zu dem kalten Gewölbe hätte bilden können: Das fensterlose Räumlein war erhellt durch ein lustig tanzendes Karminfeuer und zahllose Bettchen, Kissen, Sofas und Stühlchen warfen Schatten auf die bunten Tücher, mit denen die Wände verhängt waren. Vor dem Karminfeuer und seelenruhig Bettfedern in die Flammen werfend, sah das Mädchen sie dann das erste Mal:

Die kleine Gräfin war ein zartes Wesen. Im Nachhinein schien sie dem Mädchen sogar etwas durchsichtig zu sein, wenn auch nur äußerlich, ihre Gedanken durchschaute sie nie ganz. Auch ihr Alter blieb ein Rätsel. Zwar war sie klein und zierlich, sprach und dachte wie ein Kind. Doch zeugten ihr Wesen und ihre Haltung von solch großer Würde und Andacht, dass sie wohl älter als die Zeit hätte sein müssen.

Sie schien wenig überrascht, aber doch sehr erfreut, als sie schließlich aufblickte: “Ich habe schon auf dich gewartet! Schön, dass du endlich da bist, ich kann dich hier gut gebrauchen!” - “Wie?! Ich weiß noch nicht einmal, wie ich hier gelandet bin und du behauptest auf mich gewartet zu haben?? Du musst mich verwechseln, ich kann dir ganz sicher nicht helfen, …wobei auch immer!”, widersprach das Mädchen heftig. Doch es kam nicht lange zu Wort. Ein Stühlchen drängelte sich hinter es, zwang es so, sich zu setzten und die kleine Gräfin bat es erst einmal genauer zuzuhören. So erfuhr das Mädchen die ganze Geschichte:

Den Sonntag zuvor, so die kleine Gräfin, waren ihre Eltern, der große Graf und die große Gräfin, in den Wald gefahren und dort auf tragische Weise und unbestimmte Zeit zu zwei Bäumen verwunschen worden, sodass die kleine Gräfin allein und hoffnungslos überfordert mit der Regentschaft über das Land im Schloss zurückgeblieben war. Allerdings erschien ihr bald darauf eine Fee, die an dem tragischen Unfall wohl nicht ganz unbeteiligt gewesen war. Sie prophezeite ihr einen baldigen Gast, der sie unterstützen würde bis er eines Tages wieder verwinden und ihre Eltern zurückkehren würden, schloss die kleine Gräfin.

“Und wie lange soll das gehen? Ich habe Dienstag einen Friseurtermin, ich bekomme endlich diese blonden Strähnchen, wisst ihr überhaupt, wie lange ich darauf gewartet habe?”, entrüstete sich das Mädchen entsetzt, “Außerdem habe ich von so etwas selbst nicht viel Ahnung!”

“Erstens”, seufzte die kleine Gräfin und schloss entnervt die Augen, “sind deine Haare ohnehin schon blond, du brauchst also keine Strähnen, zweitens kannst du mir wohl helfen, wenn die Fee das sagt, du wirst dich wohl etwas für deine Herrin anstrengen können und drittens…”, die kleine Gräfin öffnete die Augen wieder und spießte das Mädchen mit ihrem Blick förmlich auf, “und drittens wird das Ganze vermutlich so lange dauern bis alle Beteiligten ihre Aufgabe erfüllt haben, erst dann kannst du wieder nach Hause”. Dann wurden ihre Gesichtszüge wieder weich und kindlich wie eh und je, sie sprach: “Es wird jetzt wohl Zeit sein, ins Bett zu gehen, kannst du mir beim Entkleiden helfen, …bitte?”

Nach einigem Widerspruch gab sich das Mädchen geschlagen und folgte der kleinen Gräfin in ihr Gemach.

In den folgenden Wochen half es ihr so bei vielen der gräflichen Aufgaben: Es delegierte Aufgaben an das Personal, einer Armee aus Teppichläufern, Kochtöpfen, Staubwedeln, Armleuchtern und vielem mehr, organisierte, begrüßte, kontrollierte, belehrte, führte vor und beriet die kleine Gräfin. Alles zunächst mehr schlecht als recht, doch nach und nach handelte es immer geübter und durchdachter. Es begann sich sogar zu wundern, warum es zu Hause so wenig selbst in die Hand nahm, wenn es doch solchen Spaß machte. Es beschloss auch, dass es der kleinen Gräfin bald das zukommen lassen müsse, was sie selbst “Hilfe zur Selbsthilfe” nannte. Nach einigen Tagen kleidete die kleine Gräfin sich selbst an und aus und übernahm immer mehr Aufgaben selbst. Als das Mädchen sich eines Tages etwas schwach fühlte, konnte die kleine Gräfin ihm getrost freigeben und ihre Arbeit selbst verrichten.

Am Abend dieses Tages besuchte die kleine Gräfin es und erschrak: Das Mädchen hatte begonnen durchsichtig zu werden! Voller Angst beschloss sie die ganze Nacht bei ihrer verblassenden Freundin zu bleiben und schlief schließlich sogar darüber ein.

Am nächsten Morgen kitzelte ein feiner Sonnenstrahl die kleine Gräfin wach. Und welche Freude: Strahlend standen ihre Eltern vor ihr, herzten sie und waren überglücklich ihre Tochter so wohlbehalten vorzufinden. Auch waren sie sehr beeindruckt, dass die kleine Gräfin sich so gut allein zurecht gefunden hatte. Die kleine Gräfin widersprach: “All das hat mir doch meine treue Freundin erst beigebracht-” und stockte: Das Mädchen hatte sich über Nacht in Luft aufgelöst, nur ein kleiner goldener Handspiegel lag noch im Bett…



Inzwischen war auch das Mädchen aus einem tiefen Schlaf erwacht. Verwirrt rappelte es sich auf, erst langsam wurde ihm bewusst, wo es gewesen war. Es stürzte aus dem Bad und ein Blick auf das noch immer laufende Fernsehprogramm sagte ihm, dass kaum eine Stunde vergangen sein konnte. Es wunderte sich: “Hatte sie all das nur geträumt?”

In diesem Moment standen seine Eltern in der Tür: “Na Kleines, alles in Ordnung? Wir sind früher aus dem Urlaub zurück… Wollen ja nicht verpassen, wie du endlich deine Strähnchen bekommst!”

Gedankenverloren murmelte das Mädchen: “Ach, wisst ihr, ich brauche die, glaube ich, gar nicht. Ich sollte wohl besser lernen auf mich selbst aufzupassen, als meine Zeit zu vertrödeln. Ich bin in meinem Zimmer, ja?”, ließ die beiden stehen und warf sich in sein Bett. Was für ein merkwürdiger Sonntag … Doch was war das, was ihm da in den Rücken stach? Das Mädchen zog einen kleinen goldenen Handspiegel unter ihrer Bettdecke hervor…

Und so endet die kleine Geschichte. Es ist die Geschichte des Mädchens, der kleinen Gräfin, aber auch meine und deine Geschichte. Es ist wohl unsere kleine Geschichte vom Erwachsenwerden.

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