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Der längste Kampf des Major Plodowski

Vor vier Jahren hat der Bundeswehroffizier in Kabul nur knapp einen Anschlag überlebt – bis heute muss er mit der Bundesrepublik um die Entschädigung streiten.
Text: marc-widmann
Sein Wohnzimmer hat Christopher Plodowski in freundlichen Farben gehalten, helles Parkett, warmes Gelb an den Wänden, mittendrin ein weißes Sofa. Doch in seiner Seele herrscht Finsternis. Immer wieder kriechen sie hervor, die Bilder von jenem 7. Juni 2003. Dann ziehen sich plötzlich tiefe Falten in das Gesicht des 41-jährigen Bundeswehroffiziers, von einem Moment auf den nächsten sieht er um zehn Jahre gealtert aus. Dann laufen die Tränen, das Herz rast und Major Plodowski ist wieder in Kabul.



Er saß in der zweiten Reihe des Busses auf der Dschalalabad-Route zum Flughafen. Er war auf der Heimfahrt, hinter ihm sangen „meine Jungs”, wie der damalige Kompaniechef die Soldaten bis heute nennt. Plodowski hat das Taxi nicht kommen sehen um 7.58 Uhr. Er hörte nur den dumpfen Knall, als der Selbstmordattentäter die 150 Kilogramm schwere Bombe zündete. Als er wieder zu sich kam, war der Bus nur noch ein Skelett. Er sah abgerissene Gesichtshälften, zersplitterte Gliedmaßen, Soldaten, „die aus allen Poren geblutet haben”. Seine Jungs. Er sah, wie das Blut auch aus seinem Arm schoss, so stark, dass ein Fernspäher einen Finger in seine Arterie steckte, um ihn am Leben zu halten. Das sind die Bilder, die Plodowski bis heute anfallen, „im Durchschnitt 15 Mal am Tag”, sagt der Mann mit den ergrauten Schläfen.













Vier Jahre nach dem Anschlag kämpft der Major gegen seine eigene Armee. Seit Monaten ist er krankgeschrieben, er hat sich einen Anwalt genommen und ist vor das Sozialgericht gezogen. Von der Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch die Wehrbereichsverwaltung Süd in Stuttgart, verlangt er „eine angemessene Anerkennung” seiner bleibenden Verletzungen. Es geht um die Frage, wie hoch seine Wehrdienstbeschädigung ist; es ist ein Gefeilsche um die Prozentzahl seiner Erwerbsminderung. Es ist eine nervenzehrende, unwürdige Auseinandersetzung für einen, der sich bei der Verteidigung des Vaterlands am Hindukusch hat in die Luft sprengen lassen, sagt Plodowski: „Um jeden Cent muss man kämpfen, irgendwas ist doch hier richtig faul.” Und der Major aus Allendorf in Hessen ist nicht der einzige Fall.



Vier Soldaten aus dem Bus müssen bis heute um die Höhe ihrer Entschädigung bangen. Ihre „Versorgungsfälle konnten noch nicht abschließend entschieden werden”, teilt das Bundesverteidigungsministerium auf Anfrage mit. Auch von anderen Auslandseinsätzen, zum Beispiel im Kosovo, kehrten Soldaten versehrt zurück - und klagen gegen die Wehrverwaltung, weil sie sich nicht fair behandelt fühlen.



Das Problem ist gewissermaßen ein mathematisches. Plodowski und seine Kameraden müssen ihre körperlichen und seelischen Wunden in Zahlen gefasst bekommen. Genauer in Prozentpunkte einer „Minderung der Erwerbsfähigkeit“, der Währung der Bürokraten für Verletzungen aller Art. Liegt die Zahl bei mindestens 50 Prozent, haben Berufssoldaten wie Plodowski Anspruch auf eine Einmalzahlung von 80 000 Euro. Zusätzlich können sie in Pension gehen und bekommen lebenslang 80 Prozent der übernächsten Besoldungsstufe. So regelt es das Einsatzversorgungsgesetz.



Die Wut steigt mit jedem Brief



Plodowskis Wut wuchs langsam, mit jedem Schreiben der Wehrbereichsverwaltung. Zuerst erkannte sie das Gutachten eines Oberstarztes in Koblenzer Bundeswehrkrankenhaus nicht an. Der Hals-, Nasen-, Ohrenfachmann hatte ihm allein in seinem Fachbereich 70 Prozent bescheinigt. Plodowski schmeckt, riecht und hört fast nichts mehr. „Ich trage die stärksten Hörgeräte, die es auf dem Markt gibt”, sagt der Major, in seinen Ohren piepst es pausenlos. Die Wehrbereichsverwaltung ließ ein Gegengutachten anfertigen von einem zivilen Universitätsprofessor. Er stellte nur 20 Prozent Erwerbsminderung fest. „Das Gutachten war eine absolute Farce”, sagt Plodowski. „Getürkt.“ Nur ein paar Minuten habe der Professor persönlich mit ihm gesprochen und ihn dann als Simulanten hingestellt.



Die Verwaltung genehmigte ihm schließlich 40 Prozent allein für seine psychischen Probleme, das bedeutet: 161 Euro im Monat. „Dafür habe ich meinen Kopf nicht hingehalten”, sagt der Soldat. Er klingt verbittert, wütend, aber auch kämpferisch. Sein Gegner sitzt nicht mehr in Kabul, er sitzt jetzt in einem Büro in Stuttgart. Plodowski will neue Gutachten erstellen lassen, auch über seine verletzten Arme, die sich fast den ganzen Tag taub anfühlen.



Doch unabhängig davon, welcher Gutachter im Recht ist und wie das Gericht entscheiden wird: Der Leidensweg des Majors ist längst zu einer Odyssee von Arzt zu Arzt geworden. Der Papierkrieg hält sein Leben im Griff wie ein Ringer seinen Gegner, nun schon seit Jahren. Und solange er mit der Bundeswehr streitet, dürften seine seelischen Wunden kaum heilen. „Bei jedem Brief vom Rechtsanwalt kommt das Thema wieder hoch”, sagt er.



Hauptfeldwebel Frank Dornseif saß im selben Bus in Kabul. Der 47-Jährige beschäftigt mittlerweile seinen dritten Anwalt. Auch er klagt vor dem Sozialgericht, will alle Gutachten noch einmal überprüfen und weitere anfertigen lassen. Er kämpft um Anerkennung und eine höhere Rente. 50 Prozent Erwerbsminderung hat ihm die Verwaltung zugestanden. Wegen seiner Bilder im Kopf, die nicht mehr verschwinden, und weil er sein Leben mit Tabletten gegen die Depressionen, gegen die Schmerzen und zum Einschlafen verbringt. Dornseif fühlt sich von seinem alten Dienstherren im Stich gelassen, seine Stimme klingt niedergeschlagen. Unter einigen der Betroffenen haben sich längst düstere Spekulationen breitgemacht: Die Verwaltung versuche mit Absicht, die Entschädigungen niedrig zu halten – und damit billig. Beweise gibt es keine, die Bundeswehr bestreitet die Vorwürfe.



Vor allem Traumata lassen sich nur schwer in eindeutige Ziffern fassen, wie sie die Bürokratie verlangt. „Es gibt in der Traumatologie leider keine objektiven Skalen”, sagt Peter Zimmermann, Leitender Oberarzt der Psychiatrie im Berliner Bundeswehrkrankenhaus, „wir müssen uns auf unsere klinische Erfahrung, auf unsere Nase verlassen”. Auf Nasen, denen die Soldaten häufig nicht trauen. Immer wieder wenden sich Betroffene, die sich nicht angemessen begutachtet fühlen, mit der Bitte um Rechtsbeistand an den Deutschen Bundeswehr-Verband (DBWV). „Die Begutachtung ist vor allem bei psychischen Erkrankungen immer wieder ein Problem”, sagt DBWV-Jurist Marcus Garbers. Da gelte oft der Satz: „Zwei Mediziner, drei Meinungen.”



Der Experte rechnet mit steigenden Betroffenenzahlen. „Die Einsätze werden nicht weniger gefahrvoll”, sagt er. Schon seit 2003 hat sich die Zahl der Soldaten mit posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) verdreifacht. 1550 Soldaten wurden seither in den Bundeswehrkrankenhäusern wegen psychischer Probleme behandelt, 640 von ihnen wegen PTBS. Der Bundeswehr-Verband hat kürzlich eine Liste mit Forderungen zum Umgang mit traumatisierten Soldaten erstellt. 19 Punkte stehen darauf, offenbar gibt es noch viel zu verbessern. Zum Beispiel verlangt die Interessensvertretung eine kostenlose Notrufnummer für Betroffene und deren Angehörige.



Musik löst Verzweiflung aus



Solch eine Hilfe hätte sich auch ein noch aktiver Marinesoldat gewünscht, der namentlich nicht genannt werden will. „Ich hatte keinen Ansprechpartner”, sagt er. Im Juni 1999, als die Serben noch dort waren, rückte er in den Kosovo ein. Er musste offene Massengräber inspizieren, frischverbrannte Leichen, Folterkeller. Zum Arzt ging er erst, als sich seine Frau von ihm trennte und sagte: „Das halte ich nicht mehr aus.” Sie meinte seine pausenlose Gereiztheit, die Aggressivität, dazu die ständigen Flashbacks, wie die Rückfälle heißen, ausgelöst durch den Geruch eines toten Tieres oder ein Musikstück, welches er damals im Einsatz gehört hatte.



Zunächst wollte der Psychologe dem Traumatisierten noch weismachen, sein Verhalten liege an den Eheproblemen, und nicht umgekehrt. Vergangenes Jahr hat der Soldat eine Wehrdienstbeschädigung von 30 Prozent anerkannt bekommen, 118 Euro im Monat. Doch auch er hat Einspruch eingelegt und will vor Gericht gehen, weil ihn bis heute gleich mehrere grausame Szenen verfolgen und er sein Trauma nicht fair beurteilt sieht. Die Bilder von 1999 werden den Mann so schnell nicht loslassen. „Ein Psychologe hat mir gesagt, solange ich auf dem Weg der Klage bin, bin ich nicht therapierbar”, sagt der Soldat. Und leise fügt er hinzu: „Ich denke, da hat er recht.”

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